Heute loben wir Sibylle Berg. Ihre Samstagskolumne „Fragen Sie Frau Sibylle“ auf Spiegel-online ist ein Solitär im deutschen Feuilleton. Der Titel verspricht eine Art Ratgeber, das ist pure Ironie. Sibylle Berg breitet vielmehr ein Panorama der Ratlosigkeit aus, sie scheut sich zum Beispiel nicht, gleich in einer Überschrift zu bekennen: „Helfen Sie mir, ich bin verwirrt“ (Kolumne vom 2. Februar 2013). Ihre feuilletonistischen Arbeiten könnte man folgerichtig als polemische Chronik der Verletzungen bezeichnen. Natürlich verteidigt sie harte Standpunkte; Opportunismus und Konsens sind ihr zuwider. Doch immer wieder lässt sie durchblicken, dass auch kategorische Stellungnahmen nicht viel ändern am Leben, das aus der Bahn geraten ist und gründlich schief läuft. Zwischen den Zeilen ist jede einzelne Kolumne auch ein leiser Nachruf auf bessere Zeiten, die leider nie eingetreten sind. Und sich vermutlich nie einstellen werden.
Sibylle Berg versucht erst gar nicht, sich zu einem allgemein gültigen Standpunkt emporzuschwingen. Ihr Material ist die Selbstbeobachtung, das präzise Aufzeichnen der Brüche und Schäden, registriert an der eigenen Person. Sie stellt sich buchstäblich selber bloß und erzählt, wie ihr unter den verschärften Bedingungen des menschenfressenden Kapitalismus zumute ist. Das unterscheidet sie von ihren männlichen Kollegen, die gerne mal aus der vornehmen Distanz heraus mit fertigen Weltgebäuden imponieren oder wie der allwissende Geist über den Wassern schweben und souverän von hoher Warte herab ihre tollen Erkenntnisse verabreichen. Sibylle Berg steht nicht über den Dingen und Ereignissen, sie steckt mitten im Getümmel und argumentiert aus der Position der kämpfenden Einzelgängerin. Dieser Standort erlaubt keine endgültigen Einsichten und Ansichten. Alles bleibt im Fluss, jede neue Unstimmigkeit oder Bedrohung kann eben erst mühsam errungene, provisorische Gewissheiten über den Haufen werfen. Sibylle Bergs Erörterungen sind unberechenbar wie das Leben.
Genau dieser offene Charakter der Kolumnen macht ihren Reiz aus. „Wie immer freue ich mich darauf, durch wohlmeinende Hinweise zu verstehen, was ich Ihnen sagen wollte“, beschließt sie augenzwinkernd einen ihrer Texte. Dies ist ihre Antwort auf die häufig in Leserkommentaren auftauchende Frage: „Was wollten Sie uns eigentlich sagen, Frau Berg?“ Fertigrezepte für die Welterneuerung gibt es in Sibylle Bergs Kolumnen nicht. Sie beruft sich weder auf blendende Thesen, noch jongliert sie mit rundum abgesicherten Gesellschaftsentwürfen. Dafür genießt ihre Leserschaft ein beachtliches Privileg: Sie darf sozusagen aus erster Hand verfolgen, wie Reflexionen entstehen und sich öfters wieder selbst widerlegen oder entkräften. Der literarische Stil wird dem Anspruch gerecht: jener menschliche Zustand der allgemeinen Verunsicherung, den Sibylle Berg beharrlich schildert, verträgt keine perfekt gedrechselten Formeln. Die Sprache verfertigt sich über dem Nachdenken, sie zeichnet sich aus durch die gleichen Risse, Verschiebungen, Verformungen, die auch das Reflektieren bestimmen. Diese Sprache kommt aus dem Bauch, sie wird nicht am Reißbrett millimetergenau festgelegt. Sie ist manchmal genau so ratlos wie die Autorin selbst.
Seit einiger Zeit macht sich in ihrer Kolumne ein störrischer Eindringling breit: der Tod. Sibylle Berg versucht erst gar nicht, der hartnäckigen Evidenz mit großartigen Gedankensprüngen und Kontorsionen auszuweichen. Der Tod ist das einzige verbindliche Allgemeingut, die einzige Referenz. Vor diesem Hintergrund tritt die bestürzende Lächerlichkeit von Kriegen, Hass, Betrug, Aggressionen aller Art umso krasser hervor. Wer unbedingt eine Philosophie aus den Kolumnentexten herausfiltern will, wird sicher fündig: Wenn wir schon alle sterben müssen, kann es nur heller Wahnsinn sein, uns gegenseitig das prekäre Leben unmöglich zu machen.
Auf der Frankfurter Buchmesse, wo sie auf dem Stand der Schweizer Verleger las, wurde Sibylle Berg gefragt, was sie alles in den kommenden Monaten vorhabe. Dies und das, sagte sie kurz, hier und dort, und schloss mit dem überraschenden Satz: „Und dann bin ich tot.“ Sicher ist hier auch ein Teil kokette Ironie am Werk. Doch im Grunde bringt die Schriftstellerin nur das Fundament ihres Schreibens auf den Punkt: Wir sind alle zu jeder Zeit höchst gefährdet; es ist ein trügerischer Trost, mit grandiosen Plänen und Träumen gegenzusteuern, oder mit schamloser Hochstapelei eine befriedigende Existenz vorzugaukeln. Besser wäre, unser verdammt kurzes Leben so zu führen, dass es buchstäblich von Sekunde zu Sekunde erträglich bliebe.
Tun Sie sich den Gefallen: Fragen Sie Frau Sibylle. Morgen Samstag, wenn Sibylle Berg mit ihrem neuen Roman Vielen Dank für das Leben in Luxemburg zu Gast ist (Abtei Neumünster), bietet sich eine gute Gelegenheit, im Netz auch ihre Kunst der Kolumne zu entdecken. Ihre wunderbar ungeschliffenen, unfertigen, wehmütigen, trauerkundigen Antworten sind Balsam in Zeiten der globalen Rechthaberei.