LEITARTIKEL

Pandoras Büchse

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2022

Das Centre hospitalier du Nord hat seine Maternité am Montag wegen einem Mangel an Kinderärzten geschlossen. Der Bereitschaftsdienst in Ettelbrück konnte nicht mehr gewährleistet werden. Hätte der Direktor das nicht getan, hätte er sich strafbar gemacht. Laut Krankenhausgesetz müssen in den kleineren Entbindungsstationen mindestens ein Gynäkologe, ein Anästhesist und ein Kinderarzt in Rufbereitschaft sein, in den größeren (mit über 1 500 Geburten im Jahr) müssen sie vor Ort anwesend sein. In der Ettelbrücker Maternité, die neben der des Escher Chem zu den kleineren gehört, wollen immer weniger Kinderärzte diesen Bereitschaftsdienst leisten.

In erster Linie geht es wohl um die Bezahlung. In der Kannerklinik des CHL, wo Salariatsmedizin praktiziert wird, ist die Bereitschaft Teil des Arbeitsverhältnisses und wird dementsprechend vergütet. Die freiberuflichen Ärzte in den anderen Spitälern erhielten lange Zeit nur das Honorar, das die Patienten ihnen schuldeten. Wenn keiner kam, gab es kein Geld. Das Chem hat sich 2018 bereit erklärt, seinen Kinderärzten 1 500 Euro pro Schicht zu zahlen, zusätzlich zu den Honoraren. 2020 wurde vereinbart, dass freiberufliche Ärztinnen für den Präsenzdienst in einer größeren Maternité wie der Clinique Bohler auf Kirchberg 96 Euro die Stunde bekommen. Das CHdN zahlt seinen Kinderärzten für eine Schicht lediglich 400 Euro und begründet das damit, dass sie nicht häufig im Einsatz seien. Doch selbst die 1 500 Euro im Chem sind selten mehr als das, was ein Kinderarzt an einem Tag in seiner Praxis verdient.

Neben dem geringeren Verdienst stellt der Rufdienst aber auch eine psychische Belastung dar. Nachts raubt die Permanence den Ärztinnen den Schlaf, selbst wenn wenig zu tun ist. Und wenn sie am nächsten Tag todmüde in der Praxis stehen, ist das weder für sie, noch für ihre Patientinnen angenehm. Eine weitere Hürde sind die Anforderungen in der Maternité. Kinderärzte, die nicht regelmäßig Neonatologie praktizieren, sind schnell aus der Übung. Kommt es zu Notfällen, sind sie überfordert. Diese Verantwortung will kaum noch jemand auf sich nehmen.

Die Probleme sind hinlänglich bekannt. Schon 2013 und 2014 hatten sämtliche Kinderärzte ihre Verträge mit dem CHdN und dem Chem gekündigt. Ettelbrück ist jetzt wieder in den Schlagzeilen, doch auch in Esch fehlt weiter Personal. Deshalb wird in Ärztekreisen schon länger über Zentralisierung diskutiert. Eine große Maternité, die alle Dienste anbietet und wo das notwendige Fachpersonal in ausreichendem Maß verfügbar ist, wäre nicht nur für die Patientinnen sicherer, sondern auch für die Ärzte selbst.

Politisch ist eine solche Lösung aber nur schwer durchsetzbar. Die DP Norden nahm die Schließung im CHdN „mit großem Erstaunen“ zur Kenntnis, die CSV bezeichnet sie als „Schlag ins Gesicht“ für die „Bürger der Nord-Region“ und ihr Ettelbrücker député-maire Jean-Paul Schaaf kritisierte in einer parlamentarischen Anfrage die Schließung, die er als Verwaltungsratsmitglied des CHdN selbst mit beschlossen hatte. Bei den Wählerinnen kommt das gut an. Lösungsvorschläge hat keiner parat.

Auch LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert nicht. Ihre Partei teilte zwar am Donnerstag mit, dass sie kurzfristige Lösungen in Aussicht gestellt habe, doch gegenüber RTL Radio hatte Lenert noch am Montag gesagt, eine „Wonnerléisung“ sei nicht in Sicht. Schließlich stellt das Problem des Notdiensts sich nicht nur bei Kinderärzten, auch wenn es in dem Bereich am akutesten ist. Will man die Maternité um jeden Preis am CHdN behalten, könnte man den Kinderärzten eine höhere Entschädigung anbieten. Doch damit würde wohl die Büchse der Pandora geöffnet. Wieso sollten andere Fachärzte dann nicht auch für ihre Bereitschaft entschädigt werden? Viele Spezialisten profitieren bislang noch von der Technik und dem Personal, das die Krankenhäuser ihnen als Gegenleistung für ihren Dienst unentgeltlich zur Verfügung stellen. Mit den kommerziellen Arztgesellschaften, die Paulette Lenert ins Leben rufen will, könnte sich das aber künftig ändern. Und wenn Radiologen sich Kernspintomographen und CT-Scanner in ihre Praxis stellen dürfen, wieso sollten sie dann noch Bereitschaftsdienst in einem Krankenhaus leisten?

Luc Laboulle
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