Wie weiter mit Klinikmedizin, Ärztehäusern, Auslagerungen und Gesellschaften?
In der Ärzteschaft wächst die Unruhe wegen der Reformen, die durch Corona Verzug haben

Als rede keiner mehr mit der AMMD

Versorgung von Covid-Kranken am Escher Chem.  Die Pandemie hat gelehrt, dass Luxemburg starke Spitäler nötig hat
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 24.12.2021

In letzter Zeit war der Präsident des Ärzteverbands, Alain Schmit, verstärkt im RTL-Radio zu hören und führte dort Beschwerde. Anfang dieses Monats sprach er von „schweren Dysfunktionen“ bei der Agentur eSanté: Sie erkenne die Wichtigkeit der elektronischen Unterschrift im digitalen Patientendossier nicht an, dabei sei die gesetzlich vorgeschrieben. Die Smartphone-App der Firma DHN, an der die AMMD eine Beteiligung hält, biete Zugang zum Patientendossier und erlaube eine digitale Signatur, sodass die Agentur eSanté die Gesondheets-App von DHN behindere.

Vor zwei Wochen klagte er, die AMMD sei von der Corona-Krisenzelle der Regierung nicht informiert worden, dass in den Krankenhäusern die „Phase 3“ ausgerufen wurde, worauf nicht dringende Eingriffe verlegt werden. Das sei ein „respektloser Umgang“ mit den Ärzt/innen. Am Montag dieser Woche führte Alain Schmit einen Rundumschlag. Er kam erneut auf die Corona-Kommunika-
tion und auf eSanté zurück, aber auch auf das „Covid-Spital“, dessen Einrichtung der Ärzteverband seit dem Frühsommer 2020 fordert. Zu guter Letzt nahm er sich Mars Di Bartolomeo vor: Der frühere Gesundheits- und Sozialminister der LSAP, der heute dem parlamentarischen Gesundheitsausschuss vorsitzt, habe die politischen Fragen, die sich um Auslagerungen von Aktivitäten aus den Spitälern in ambulante Zentren stellen, „quasi an sich gerissen“.

So spricht, wer nach äußeren Konfliktherden sucht. Denn bei eSanté sitzt die AMMD im Verwaltungsrat. Der Agentur Dysfunktionen vorzuwerfen, grenzt an Selbstbezichtigung, und weil die Firma DHN sich anschickt, eSanté Konkurrenz zu machen, grenzt es an Interessenkonflikte. Über die Corona-Phase 3 wussten die Klinikärzte, die das betrifft, selbstverständlich Bescheid. Doch in der Ärzteschaft rumort es. Da soll es offenbar helfen, den Verband zusammenzuhalten, indem ihm Feindbilder präsentiert werden.

Gesundheitspolitisch hat Luxemburg nicht nur mit der Corona-Seuche zu tun. Digitalisierung im Gesundheitswesen und die Reor-ganisation zwischen Spitälern und dem ambulanten Bereich sind wichtige Fragen. Sie betreffen auch, wie Ärzt/innen ihren Beruf ausüben. Die AMMD hatte dazu bei ihren Mitgliedern Erwartungen geweckt. Im Wahljahr 2018 führte sie eine aggressive Kampagne gegen das bestehende „System“. Mal nannte sie den Medizinischen Kontrolldienst der Sozialversicherung den verlängerten Arm einer „Staatsmedizin“, mal die CNS eine „Monopolistin“. In der Nomenklaturkommission, die über Gebührenordnungen mit ihren Tarifen berät, betrieb sie eine Politik des leeren Stuhls, die erst enden sollte, wenn die damalige Regierung in eine Grundsatzdiskussion über das Gesundheitswesen eingewilligt hätte.

Die zweite DP-LSAP-Grüne-Regierung gab der AMMD, was sie wollte. Die Grundsatzdiskussion zu führen, wurde im Koalitionsvertrag abgemacht. Die Regierung gab der AMMD sogar noch mehr: Mit Etienne Schneider übernahm das Gesundheitsressort ein Minister, der sich so viele „Öffnungen“ des seit den Neunzigerjahren fein austarierten Systems vorstellen konnte, dass dem gewerkschaftsnahen Flügel seiner Partei erst wohler wurde, als Schneider sein „Leben zurückhaben“ wollte und im Februar 2020 ging.

Und so dominierten die Ideen des Ärzteverbands lange die gesundheitspolitischen Diskussionen, auch als die Covid-Pandemie ausgebrochen war. Es leuchtete ja ein, was eine von Etienne Schneider in Auftrag gegebene Studie vor zwei Jahren ergeben hatte: Stand 2017 war die Hälfte der Mediziner/innen 53 oder älter. Von den in jenem Jahr 2 088 aktiven Ärzt/innen könnten in den kommenden
15 Jahren 1 233 bis 1 437 in Rente gehen. Um sie zu ersetzen, seien pro ausscheidendem Arzt 1,2 bis 1,5 neue nötig, da ganz abgesehen von der zunehmenden „Feminisierung“ des Berufs junge Ärzt/innen generell weniger bereit seien, „zu leben, um zu arbeiten“, als ihre älteren Kollegen. Für manche Facharztdisziplinen sagte die Studie einen noch größeren Bedarf an Nachwuchs voraus – je nach Disziplin würden bis zu 87 Prozent der heute Aktiven ausscheiden. Da Luxemburg erst ansatzweise beginnt, Mediziner selber auszubilden, bleibe es abhängig vom Ausland und damit „angreifbar“. Denn im Grunde hätten alle europäischen Länder Probleme mit ihrer Mediziner-Demografie und ergriffen Maßnahmen, um ihre Ärzte bei sich zu halten (d’Land, 11.10.2019).

Mit diesen Trends als Grundlage argumentierte die AMMD für Aufwertung und Steigerung der Attraktivität des Arztberufs per gründlicher Reorganisation: Die Spitäler sollten auf ihre „Kernaufgaben“ zurückgeführt, leichte Aktivitäten in ambulante Zentren ausgelagert werden. Geführt werden sollten die Zentren entweder in Ko-Verwaltung von Spitälern und Ärztegesellschaften, die neu gegründet werden müssten, oder von Ärztegesellschaften allein.

Dass sich dazu noch nicht viel getan hat, ist ein Grund für den Unmut in der Ärzteschaft. Es gibt Ärzt/innen, die ungeduldig auf ein Gesetz warten, das die Gründung von Gesellschaften erlaubt. Zusammenschlüsse in „Assoziationen“ sind bereits möglich; dort können Praxiskosten und Honorare vergemeinschaftet werden. Ärzt/innen gründen auch Immobiliengesellschaften zivilen Rechts und setzen dort ihre Praxisräume ein. Ärztegesellschaften gingen noch weiter: Die sie gründenden Mediziner/innen würden Teilhaber, die Gesellschaft könnte andere Ärzt/innen einstellen. Um eine solche Firma zu eröffnen, halten manche Ärzt/innen sich in Bereitschaft, haben schon Immobilien dafür erworben. Andere Mediziner/innen wiederum halten gar nichts von der Aussicht, dass Ärzt/innen Angestellte von Ärzt/innen würden: Die in Luxemburg überwiegend freiberuflich ausgeübte Profession sollte das auch bleiben. Vor allem Allgemeinmediziner/innen fürchten, dass große multidisziplinäre Ärztezentren für Hausarztpraxen zu einer Konkurrenz würden, gegen die sich wenig ausrichten ließe.

Mittlerweile vertritt die AMMD ihre Ideen von Auslagerung und Gesellschaften vorsichtiger. Nicht zuletzt der AMMD-Präsident, denn die Ungeduld zum Systemwechsel hat auch die Vorstandsspitze erreicht; Alain Schmit muss nun die Kritiker/innen an der Basis integrieren. Vorsichtiger wurde die AMMD aber auch, weil ihre Ideen von Akteuren aufgegriffen wurden, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Regelrecht entsetzt reagierte sie, als Anfang dieses Jahres bekannt wurde, dass in Junglinster in Zusammenarbeit von Gemeinde und Robert-Schuman-Krankenhausstiftung ein Praxiszentrum entstehen soll. Empört beschuldigte der Ärzteverband die Fondation Hôpitaux Schuman, als „Finanzier“ in ein solches Zentrum einzusteigen; ein Szenario, das die AMMD stets habe verhindern wollen. Vor fünf Wochen machte ein anderes Vorhaben von sich reden: Zwei Ärzte hatten ein Groupement d’intérêt économique gegründet, um in Potaschbierg ein Gesundheitszentrum mit Magnetresonanztomograf (IRM) zu eröffnen. Der Grevenmacher député-maire Léon Gloden (CSV) gab sich als Mitinitiator zu erkennen und schrieb, er arbeite mit „Privatinvestoren“ zusammen. Wie sich herausstellen sollte, waren damit die Ärzte des GIE gemeint, die in Luxemburg praktizieren, und nicht etwa ein ausländisches Unternehmen. Doch was könnte ein solches davon abhalten, in Luxemburg ebenfalls ein GIE zu gründen und hierher zu expandieren? Radiologen berichten bereits, dass mehrere Radiologie-Firmen aus den drei Nachbarländern sich für Luxemburg zu interessieren begonnen hätten.

Noch gibt es hierzulande keinen regelrechten „secteur extrahospitalier“. Ambulante Radiologie mit schweren Apparaten scheitert noch an einem Passus im Krankenhausgesetz. Was die IRM in Pot-aschbierg vorerst ebenso blockiert wie die in Cloche d’Or in einem Projekt, an dem Flavio Beccas Entwicklungsgesellschaft Promobe beteiligt ist, sowie die Pläne der Schuman-Kliniken in Junglinster. Doch wenn eine Reorganisation zwischen Kliniken und neuen ambulanten Einrichtungen politisch gewollt ist, und Gesellschaftsgründungen es auch sind – wie soll das dann geschehen?

Ob dazu tatsächlich noch in dieser Legislaturperiode Entscheidungen fallen, scheint nicht so sicher. Eigentlich hatte Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) bis zum Jahresende ein Modell vorzulegen angekündigt, dem zu entnehmen sein soll, welchen „ambulanten Bedarf“ es gibt und wie er sich „regulieren“ lasse. Da das Jahr bald zu Ende geht, lässt dieser Termin sich offensichtlich nicht einhalten, ein neuer wurde bisher nicht genannt. Stattdessen gab die Ministerin vergangenen Monat ein avant-projet für einen Gesetzentwurf in die Konsultation, der Gesellschaften im Gesundheitswesen ermöglichen soll. Nicht nur Ärztegesellschaften, sondern auch solche von Krankenpflegern und Hebammen, Kinésitherapeuten und Ernährungsberaterinnen, Apothekern, Psychotherapeutinnen und Veterinären.

Der Vorentwurf sorgt für einige Unruhe. Geschrieben hat ihn die AMMD mit dem Collège médical und der Anwaltsfirma Arendt & Medernach. Im Mai hatte Paulette Lenert gegenüber dem Land betont, ihr Ministerium überarbeite und ergänze den ursprünglichen Text noch (d’Land, 7.5.2021). Doch falls der Vorentwurf nun in erster Linie einer des Ministeriums wäre, sieht er problematisch aus. Die Handelskammer schrieb vor drei Wochen, auch eine Gesundheits-Gesellschaft zivilen Rechts könne nur als „kommerziell“ im Sinne des Handelsrechts verstanden werden. Der Conseil supérieur pour certaines professions de santé, Organ für 24 Berufe, die nicht im Collège médical vertreten sind, sieht das ganz ähnlich. Bemerkenswerterweise steht im Deontologiekodex der 24 Gesundheitsberufe seit 2018 nicht mehr, dass sie „nicht als Kommerz“ betrieben werden dürften. Der Staatsrat hatte zu dem großherzoglichen Verordnungsentwurf, der den Kodex in Kraft setzen sollte, eingewandt, „aucune disposition légale ne prévoit cette interdiction“. Der betreffende Artikel sei zu streichen, sonst verstoße er gegen die in der Verfassung garantierte Freiheit bei der Ausübung liberaler Berufe.

Damit ist wohl ausgerechnet im Ärzte-Deontologiekodex die Bestimmung, „la médicine ne doit pas être pratiquée comme un commerce“ ein Anachronismus und potenziell verfassungswidrig. Und das Versprechen der AMMD, die von ihr gewünschten Gesellschaften hätten keinen lukrativen Zweck, müsste auf Gesetzesweg anders eingelöst werden als mit dem Vorentwurf, den der Ärzteverband mitverfasst hat. Obwohl: Es gibt Ärzt/innen, die sich gerne als Geschäftsführer sähen. Ob junge Ärzt/innen nach zwölf Jahre langer Ausbildung sich zurück nach Luxemburg gezogen fühlen würden, wenn ihnen die Anstellung in einer Ärztegesellschaft winkt, fragt sich aber. Der Vorentwurf orientiert sich an dem Spezialgesetz von 2011 über Anwaltsgesellschaften. Junge Anwält/innen beginnen in großen Law Firms ihre Karriere nicht selten zu Niedriggehältern. Und dem Fortgang der Laufbahn ist es nicht unbedingt dienlich, zu viel Wert auf „Work-life balance“ zu legen.

Dagegen erklärte Julie Zangarini, Vorsitzende des Medizinstudentenverbands Alem, bei einer Anhörung im parlamentarischen Gesundheitsausschuss am 16. Juni dieses Jahres: „De Facteur attraktive Salaire a mäin Heemechtsland ass leider oft net méi Grond genuch, fir zréck op Lëtzebuerg ze kommen. Jonk Doktere wënsche sech méi wéi dat. Si wëlle flexibel Aarbechtszäiten, d’Méiglechkeet, och vläicht mi-temps ze schaffen, d’Méiglechkeet, an engem Grupp zesummenzeschaffen an net op sech aleng gestalt ze sinn, a Weiderbildungsméiglechkeeten am Laf vun hirem Beruffsliewen zu Lëtzebuerg ze hunn.“

Inwieweit Ärztezentren unter Gesellschaften, die doch kommerziell sind, das bieten könnten, ist offen. Ob das Spitäler besser könnten, auch. Die Salariatskammer verlangt in einer Stellungnahme, dass die Gesundheitsministerin ihren Vorentwurf sofort zurückziehe: Er ziele auf die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und Zwei-Klassen-Medizin ab. Ambulante Strukturen stellt die Salariatskammer sich als „Antennen“ von Spitälern vor, Klinikärzt/innen sollten festangestellt sein. Letzteres findet der Conseil supérieur pour certaines profes-
sions de santé auch.

Das berührt weitere große Fragen: Wie könnten ambulante Zentren und Kliniken zusammenwirken, so dass die Versorgung der Patient/innen hochwertig ist und die Kliniken nicht geschwächt werden? Und wie würde so ein System finanziert?

Auch unter Klinikärzt/innen, die Freiberufler sind, ist keineswegs ausgemacht, dass die Auslagerungsideen der AMMD in eine gute Richtung gehen. Kliniken hätten eine „mission de santé publique“, Ärztezentren liefen auf „Rosinenpickerei“ hinaus, meinte zum Beispiel vergangenen Samstag im RTL Background Jean-Marc Cloos, Chef der Psychiatrie am Hôpital Kirchberg. Ein anderer Krankenhausmediziner sagt dem Land, Verluste von Aktivitäten an ambulante Zentren könnten in den Kliniken Defizite auslösen.

Hinter solcher Kritik verbirgt sich einerseits die Befürchtung, Ärzt/innen ambulanter Zentren gingen für Klinik-Bereitschaftsdienste verloren. Andererseits wissen Krankenhaus-Mediziner/innen, wie ihre Häuser finanziert werden: Leichte chirurgische Eingriffe zum Beispiel sind höchstwahrscheinlich in einer ambulanten Einrichtung billiger als in einem großen Akutspital. Doch die Spitäler werden über Budgets finanziert, in denen ihre voraussichtliche Aktivität für die nächsten zwei Jahre angenommen wird. Zugrunde liegt dabei, das an „Kostenstellen“ geleistete Aktivitätsvolumen. Aus dem Durchschnitt der Kosten und der Zahl der Aktivitäten ergibt sich ein Volumen, das die CNS übernimmt. Gehen leichte Aktivitäten, die in großer Zahl anfallen, an ambulante Zentren verloren, drohen Defizite, sofern kein anderes Finanzierungsmodell gefunden wird.

In dieser komplizierten Gemengelage geht der Ärzteverbands-Präsident vors Radio-Mikrofon und erzählt, dass keiner ihm zuhöre. Auf der AMMD-Jahresversammlung am Mittwoch vergangener Woche machte der Vorstand des Verbands ähnliche Vorwürfe an Politik, Ministerien und Verwaltungen. Der Ton war dem Vernehmen nach nicht immer freundlich.

Aber ganz Unrecht hat der Ärzteverband nicht, wenn er feststellt, dass sich am Gesondheetsdësch mit seinen sechs Arbeitsgruppen noch nicht viel getan habe. Und es könnte immerhin sein, dass sich bis zu den nächsten Wahlen nicht mehr viel tut. Nicht nur, weil die Thematik hochkomplex ist und brisant. Sondern auch, weil es in erster Linie die LSAP sein wird, die sich den Ausgang oder einen Zwischenstand der Reformdiskussionen politisch aneignen muss, um davon bei den nächsten Wahlen profitieren zu können. Die populäre Gesundheitsministerin hat bisher kaum gesagt, was sie mit den Reformen will und was sie nicht will. Das mag daran liegen, dass Paulette Lenert kein politisches Tier ist. Die AMMD scheint zu vermuten, dass der OGBL-nahe Ex-Minister Mars Di Bartolomeo im Hintergrund agiert. Dabei bereitet er als Präsident des parlamentarischen Gesundheitsausschusses eigentlich nur zwei große Gesundheits-Debatten vor. Aber es scheint gut möglich, dass Paulette Lenert für den Wahlkampf vorziehen könnte, den Gesondheetsdësch und den angekündigten Gesondheetsplang nicht zu hoch zu hängen und vor allem an ihre Rolle der fleißigen Seuchen-Managerin zu erinnern. Dann hätten Reformen keine Eile. Dann könnte die AMMD 2023 erneut in den Kampagnen-Modus schalten wie schon 2018.

Peter Feist
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