Alte Ressentiments, neue Wunden: Seit Jahrzenten versuchen die Moselgemeinden nationalstaatliche Barrieren abzubauen. Doch das gegenseitige Misstrauen der Covid-Zeit hat tiefe Spuren hinterlassen

Ewige Grenze

Ein Herr tritt in Sabine‘s Papierstübchen ein
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 14.08.2020

Tote Hose Ein Mann sitzt auf einer Bank im Schatten. Neben ihm ein Schild mit durchgestrichenem Hund. Er schleckt an seinem Waffeleis. Doch das Eis schmilzt und tropft zu Boden. An ihm läuft ein Junge vorbei. Er hat die Haare nach hinten zu einem Zopf geflochten. Der Junge trägt ein weißes Gewand, Lederriemen, Lederschuhe und ein Schwert. Wie ein römischer Legionär. Er zeigt mit seinem Schwert auf ein Gebäude mit gelber Fassade. „Das ist das alte Herrenhaus von Perl“, so der Junge zu seinen beiden erwachsenen Begleitern. Dann schwenkt er sein Schwert und zeigt auf eine alte Kaisereiche: „Und hier ist das Naturdenkmal, der Baum ist mehr als 300 Jahre alt.“

Es sind die einzigen Menschen, die sich an diesem Morgen in der kleinen Stadt Perl auf den Straßen befinden. Die Metzgerei ist geschlossen, der Dönerladen ebenso und im Schuhgeschäft Euroshop ist niemand zu Gast. Immerhin: In Sabine’s Papierstübchen (sic!) füllt ein Herr die Lottozahlen aus. „Es ist tatsächlich erschreckend ruhig“, sagt Ladenbesitzerin Sabine Jänke.

Sie hat den kleinen Kiosk vor einigen Jahren übernommen. Damals war er heruntergewirtschaftet, nichts deutete darauf hin, dass in einer kleinen Grenzstadt wie Perl noch ein Zeitungsladen überleben könnte. Gegen die Dominanz der Tankpaläste in Schengen mit günstigem Sprit, Kippen und Alkohol wirkte ein Kampf aussichtslos, gegen die Digitalisierung sowieso. Doch Sabine Jänke fand eine Nische, ein Geschäftsmodell, um gegen die Luxemburger Steuerpolitik und den digitalen Druck zu bestehen: Amazon-Pakete.

Der Online-Riese bietet zwar von der Windel bis zur Urne sämtliche Produkte dieser Welt zum Verkauf an, aber längst nicht alles lässt sich ins Großherzogtum verschicken. Hier kommt
Sabine Jänke ins Spiel: Sie bietet ihr Papierstübchen als Adresse für Luxemburger Kunden an. So hat sie den Standortnachteil in einen Vorteil verwandelt. Kunden aus Luxemburg tragen zu 80 Prozent ihres Umsatzes bei. Das Geschäft florierte, sie konnte zwei Aushilfestellen schaffen.

Doch Sabine Jänke zeigt auf einen Raum, in dem nun lediglich rund ein Dutzend Kartonpakete liegen. „Normalerweise liegt hier alles voll.“ Aber seit Corona sei das Geschäft mit den Paketen vollkommen eingebrochen. Zunächst war es die Grenzschließung, dann gab es eine kurze Phase der Erholung. Und seitdem das Robert-Koch-Institut Luxemburg als Risikogebiet eingestuft hat, herrscht erneut Unsicherheit. Die Luxemburger Kunden wissen nicht mehr, ob sie noch in Deutschland willkommen sind, ob sie noch rüberkommen dürfen. „Das ist absolut geschäftsschädigend“, so Jänke. „Und eine Katastrophe für das Zusammenleben in der Grenzregion.“

Freundschaft Tatsächlich hat die Krise die Grenzregion arg in Mitleidenschaft gezogen. Seit Jahrzehnten haben die Grenzgemeinden Schengen, Apach und Perl auf politischer Ebene viel Energie darin gesteckt, um zusammenzuwachsen. Um zur europäischen Vorzeigeregion zu werden und nationalstaatliche Gegensätze hinter sich zu lassen. 2006 wurde in Perl das Deutsch-Luxemburgische Schengen-Lyzeum eröffnet, das die unterschiedlichen Bildungssysteme miteinander vereint, es gibt eine gegenseitige Trinkwassernotversorgung und 2014 hat die Luxemburgische Bauerngenossenschaft De Verband eine große Mischfutterfabrik in Perl eröffnet. Die Kleinstadt zählt mittlerweile rund 9 000 Einwohner, darunter sind ein Drittel Luxemburger.

Vollkommen weg war die Grenze natürlich nie: Der Handel orientiert sich an den unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten. Das zeigt das Beispiel von Sabine’s Papierstübchen im Kleinen, die Tankstellen in Schengen oder die Drogeriemarktkette DM in Perl im Großen. Mittlerweile gibt es vier Drogerieläden in Perl, darunter der größte DM in Europa. Es soll Luxemburger geben, die eigens einen Kleinlaster mieten, um sich mit den günstigeren Kosmetikprodukten in Perl einzudecken.

Auch architektonisch sind die unterschiedlichen Kulturen sichtbar: Die Altbauten in Perl sehen mehr nach München aus als nach Luxemburg, die Häuser in Sierck-les-Bains mit ihren Terrakottadächern mehr nach Provence und die Häuser in Schengen haben ihren eigenen luxemburgischen Stil. Lediglich die neuen weißen Quadrathäuser sehen überall gleich nach postmoderner Beliebigkeit aus.

Doch seit der Coronakrise ist die Grenze vor allem in der Wahrnehmung der Menschen wieder präsent. Die Krisensituation hat die Grenzregion als fragiles Konstrukt entlarvt; wenn es ernst wird, ziehen die Nationalstaaten schnell die Mauern hoch und schotten sich ab. Und mit der Rückkehr des Nationalstaats feiern auch die alten gegenseitigen Ressentiments ein Comeback. Gerüchte von Luxemburgern, die Einkaufsläden verlassen mussten oder von Schildern mit Aufschriften wie „Luxemburger unerwünscht“ verbreiten sich rasend schnell im Netz, aber auch in den traditionellen Medien. Der Politikberater der Luxemburger Regierung Christan Stahl hat in einem Kommentar auf dem Berliner Radiosender FluxFM, seine Landsleute vor einem „Corona-Rassismus“ gegen Luxemburger gewarnt, Außenminister Jean Asselborn (LSAP) wehrt sich gegen ungerechte Behandlung mit Sätzen wie „Luxemburg ist kein Schlachthof“ oder „Luxemburg ist kein Ballermann“.

Verstimmungen „Das ist absolutes Gift für unser Zusammenleben“, sagt der Bürgermeister von Perl, Ralf Uhlenbruch. Der CDU-Politiker steht seit 2015 an der Spitze der Gemeinde und ist in der Region aufgewachsen. Er hat drei Kinder, die im Schengen-Lyzeum zur Schule gehen und laut Uhlenbruch viele Luxemburger unter ihren Freund/innen zählen. Er habe natürlich auch von diesen „Gerüchten“ gehört, konnte aber keine Belege finden, dass Luxemburger tatsächlich diskriminiert wurden. „Persönlich habe ich keine Beschwerde erhalten.“ Uhlenbruch spricht ähnlich wie alle anderen Perler ungern über diese Vorwürfe und hält es für ein großes Ärgernis. „Die Beziehungen in der Region sind eng verflochten, wir dürfen das nicht aufs Spiel setzen“, so Uhlenbruch. „Natürlich sind Luxemburger so willkommen wie immer“, allein dass er diesen Satz schon erwähnen muss, hält er für absurd.

Manche Unternehmen gehen mittlerweile dazu über, explizit auf Schildern hinzuweisen, dass Bürger aller Nationen eingeladen sind. Uhlenbruch hält das für einen sinnvollen Weg, um gegenzusteuern. Die Aussagen des Präsidenten des Hotel- und Gaststättenverbandes Rheinland-Pfalz (Dehoga), Gereon Haumann, in dieser Woche, wonach Gäste aus Luxemburg nur unter Vorlage eines negativen Covid-Tests zugelassen werden, konterkarieren dabei die Anstrengung um freundschaftliche Beziehungen. Haumann hat eigentlich nur das gefordert, was die Landesregierungen in Rheinland-Pfalz und Saarland als best practise empfehlen und seine Aussage sogar später relativiert, aber die Meldung konnte er nicht mehr einfangen.

Denn die Gerüchte von Luxemburgern, die von Deutschen diskriminiert werden, haben sich mittlerweile verselbständigt: Sie scheinen die Weltsicht mancher Luxemburger vom „hässlichen Deutschen“ zu bestätigen und eine geschlossen geglaubte Wunde von zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert zu öffnen. Ob die Meldungen tatsächlich der Realität entsprechen, ist wie so oft bei Stereotypen und Ressentiments eigentlich irrelevant. Manche Luxemburger nehmen sich aus Trotz vielmehr gerade das Recht, ihrem Frust freien Lauf zu lassen. In den sozialen Medien werden Deutsche als „houer Preisen“ beschimpft, andere berichten dem Land, dass sie auf ihrem Arbeitsplatz oder beim Tanken ähnliche Hasskommentare über sich ergehen lassen mussten. Die Kategorie der Nation als Projektionsfläche für Charakterzüge und sonstige Eigenschaften feiert gerade auf erschreckende Weise Renaissance. Selbst der ehemalige Chefredakteur des Tageblatt, Alvin Sold, schreibt auf Twitter: „Oui nos chers voisins allemands sont autres que nous pensions: lâches, arrogants, anti-luxembourgeois même. Notons-le. Mais notons aussi que nos voisins français sont ‘comme toujours’. - Vive la France!“

Entfremdung In diesem Kima der Unsicherheit fühlen manche Luxemburger, die in Perl wohnen, sich nicht mehr wohl. Elisabeth Lemaire lebt seit 2016 in einem Haus in der Moselgemeinde. Nicht weit entfernt lebt ihre Tochter mit ihren Kindern. Sie findet, dass es sich in Perl gut leben lässt, die Straßenverbindungen sind hervorragend, die Menschen freundlich – nur für Käse fährt sie zum Carrefour nach Sierck-les-Bains. „Französischer Käse ist einfach besser.“

Aber seit der Grenzschließung im April spricht sie von einer Entfremdung. „Ich fühle mich ein wenig unerwünscht.“ Vollkommen rational begründen lasse sich das nicht, sie habe zudem noch keinen bösen Kommentar gehört, pflege ein gutes Verhältnis zu ihren Deutschen und Luxemburger Nachbarn. Aber ein mulmiges Gefühl hat sie trotzdem.

Die Luxemburger Künstlerin Joëlle Daubenfeld (erste Gewinnerin der RTL-Sendung Generation Art) lebt ebenfalls seit einigen Jahren in Perl. Als alleinerziehende Mutter blieb ihr keine andere Wahl, so Daubenfeld. „Ich konnte mir in Luxemburg schlichtweg nichts leisten.“ Also hielt sie Ausschau nach Alternativen und wurde in Perl fündig. „Es war eine meiner besten Entscheidungen überhaupt.“ Mittlerweile ist sie in ein größeres Haus in Perl gezogen, zahlte für 240 Quadratmeter 250 000 Euro. „Dafür gibt es in Luxemburg wahrscheinlich eine Garage.“

Ihre drei Kinder gehen in Perl zur Schule, der 13-jährige Sohn ist im Schengener Lyzeum. Sie pendelt in der Woche nach Esch/Alzette, arbeitet beim Sozialprojekt Hariko. Sie fühle sich vollkommen wohl und integriert in Deutschland, auch in Zeiten von Corona. In Luxemburg-Stadt war sie das letzte Mal vor drei Jahren. „Die Stadt fehlt mir nicht.“

Die Gerüchte um schlecht behandelte Luxemburger hält sie für wirres Geschwätz: „Die Leute reden gerne dummes Zeug.“ Sie selbst hat noch keinen negativen Kommentar gehört und wurde auch nie gebeten, den Supermarkt oder den Metzger zu verlassen, wie es manche erzählen. Dabei sieht die Künstlerin das Problem eher andersrum: „Viele Luxemburger halten sich für etwas Besseres und denken aus irgendwelchen Gründen, sie seien Franzosen, Belgiern oder Deutschen überlegen“, so Daubenfeld, „Vielleicht erdet die aktuelle Krise ja das Selbstverständnis dieser Menschen.“

Pol Schock
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