Jeder Mensch kann sich einmal verzählen. Oder sich verschätzen. Am vergangenen Samstag gab es in Berlin eine Demonstration von Gegner/innen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Die Polizei schätzte 20 000 Teilnehmende, die Veranstalter hingegen zählten bis zu 1,3 Millionen. Zum Beweis ihrer Schätzung flutete diese das Internet mit einem imposanten Bild einer Massenbewegung vor dem Brandenburger Tor. Darauf stehen dicht an dicht Tausende Menschen auf der Straße des 17. Juni. Asphalt ist kaum zu erkennen.
Was der Veranstalter verschweigt, ist, dass das Bild gar nicht vom Corona-Protestzug stammt, sondern bereits vor 19 Jahren – während der Love Parade 2001 – aufgenommen wurde, als angeblich eine Million Menschen im Rhythmus des Taktes durch den Tiergarten wippten. Die Aufnahme gilt nun als angeblicher Beweis und wird auf Facebook, Twitter und in Messenger-Gruppenunzählige Male geteilt. Gefolgt von der immer gleichen Argumentation: Der Veranstalter wirft den Medien vor, die Zahlen von der Polizei ungeprüft zu übernehmen, und der Polizei, gezielt Falschmeldungen zu verbreiten. Dazu schrecken sie anicht davor zurück, nachweislich gefälschte Tweets der Berliner Polizei zu verbreiten
Es geht um die normative Kraft des Faktischen. Wobei das, was als Fakt gilt, nicht länger Fakt sein muss, sondern das, was am „lautesten“ und am häufigsten kommuniziert wird. Dazu gehört auch, was verbreitet und geteilt wird. Wobei Fakten nicht zählen, denn schließlich gibt es zu jeder Tatsache eine vermeintliche „Alternative“ oder Meinungsvielfalt mit Deutungshoheit, wie es die Protestler kundtaten mit sehr weitreichenden Redebeiträgen während der Abschlusskundgebung, die die üblichen „Merkel muss weg“-Ansagen aufgriffen, wie auch die These, dass Bill Gates das Virus entwickelt habe, und die Botschaft teilten: „Jesus lebt!“.
Ebenso wenig sind die Teilnehmenden unter einen Hut zu bringen: Ältere Menschen aus Süddeutschland protestieren sprichwörtlich Hand in Hand mit muskulösen Männern in Partystimmung und Menschen mit esoterischen Bannern, gleichauf mit Rechtsextremisten, Vertreter/innen der Reichsbürgerbewegung und NPD-Kader neben Familien mit Kindern – allesamt in Birkenstocksandalen. Kaum einer im Protestzug trägt Maske. Passanten und Journalisten werden aufgefordert, ihre abzulegen. „Gesicht zeigen“, schreien die Demonstranten – was ein bekannter Slogan einer renommierten Anti-Rechts-Organisation ist. Abstandsregeln sind nicht nur obsolet, sondern vollkommen egal. „Lasst euch nicht von der Regierung spalten“, fordert eine Rednerin in der Nähe des Brandenburger Tors; ein paar Wagen weiter fragt ein Mann: „Wollt ihr alle Party machen?“ Es sieht nach Karneval aus, als jemand Bonbons und Süßigkeiten vom Wagen wirft. Die Sprechchöre dazu: „Berlin, Berlin! Wir ziehen durch Berlin!“ Und: „Wir, wir, wir sind die zweite Welle.“
Es ist genau diese Verharmlosung, die Protestmärsche wie diese attraktiv machen. Verstärkt durch den Mix der Corona-Gegner. Doch diese Demonstranten sind keine homogene Gruppe, die sich allein durch ihren Widerspruch gegen die Pandemie-Maßnahmen findet, sondern eine heterogene, beliebige Gruppierung, die den Protestmarsch stets auch für „Zweitbotschaften“ nutzt. So marschieren an diesem Samstag Mütter und Väter neben einer Frau mit Hakenkreuz-Tattoo und einem Mann, der ein antisemitisches Pamphlet offen bewirbt. Deshalb fühlen sich auch die Impfgegner angesprochen, ebenso wie Eltern, die beispielsweise von der langen Zeit der Betreuung der Kinder genervt sind. Sie lassen sich leicht von Verschwörungstheoretikern, Modernisierungsverlierern und Reichsbürgern instrumentalisieren und vor deren Karren spannen. Verstärkt wird dies dadurch, dass Vertreter/innen des deutschen Bio-Landwirtschafts- und -Anbauverbands Demeter mitmarschieren. Dieser Verband wurde vor zwei Jahren mit dem Negativpreis „Brett vorm Kopf“ ausgezeichnet. In der Begründung zur Preisverleihung hieß es damals: „Wer Demeter-Produkte kauft, meint wohl oft, der Umwelt etwas Gutes zu tun – in Wahrheit wird damit ein vorwissenschaftlich-magisches Weltbild gefördert, mit fragwürdigen Ritualen, willkürlich erfunden vom Esoteriker Rudolf Steiner.“ Der Corona-Protest wird als Vehikel für verschwörungstheoretische, rassistische, homophobe, spalterische und antisemitische, aber auch für die freiheitlich-demokratische Grundordnung wie die Gesellschaft angreifende Botschaften genutzt. Darin liegt der gefährliche Unterton der Demonstration.
Genau dieses undefinierte Inhaltsbild bedient der Veranstalter des Protests, der Stuttgarter Verein „Querdenken711“. Wer auf dessen Webseite nach Inhalten sucht, muss sich durch eine Menge kruder Videos mit Redebeiträgen bewegen, die eher einem stream of consciousness, man kann es auch Gelaber nennen, gleichen, denn einer programmatischen Positionierung. Hinzu kommt die Beißhemmung der „wehrhaften Demokratie“. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung bewertet die Meinungsfreiheit als hohes Gut, das es zu verteidigen gilt. Dieses Gut findet seine Schranken lediglich in der Leugnung des Holocausts. Daraus resultieren Erfahrungen, die Deutschland mit dem Totalitarismus machte. Eingriffe in persönliche Freiheitsrechte sind schwer durchsetzen, weshalb Kanzlerin Angela Merkel persönlich den Corona-Beschränkungen gegenüber der Bevölkerung begründete. So soll das oft benutzte Argument der Corona-Gegner entkräftet werden, dass mit den vorgenommenen Maßnahmen etwa das deutsche Grundgesetz außer Kraft gesetzt, die Meinungs-, Presse- und die Reisefreiheit abgeschafft würden. Generell zeigt sich das Unbehagen und die Angst der deutschen Gesellschaft wie politischen Elite beim Vorgehen gegen solche Strömungen – auch innerhalb staatlicher Organisationen.
Am vergangenen Wochenende war der Kampf der Zahlen eigentlich bereits im Vorfeld entschieden: In Internetaufrufen zur Demo hatten die Stuttgarter mit 500 000 Teilnehmenden geprahlt, die aus ganz Deutschland nach Berlin reisen würden. Doch erst kurz vor dem Veranstaltungstag hatten sie die Demonstration dann offiziell bei der Berliner Polizei angemeldet: mit nur noch 10 000 Teilnehmer/innen.