Gesellschaftlicher Wandel

Vom Marienland zum liberalen Vorreiter

d'Lëtzebuerger Land vom 15.02.2013

Mit dem, was es selbst eine intelligente Ausnutzung von Hoheitsnischen nennt, hat Luxemburg in der weiten Welt vielfach den Ruf einer kleinen, parasitären Volkswirtschaft. Zu Hause sind sich die Verfechter von Thron und Altar sowie der nicht weniger bornierte Teil ihrer Kritiker oft in der Verkennung auch linker und liberaler Traditionen einig und stellen gerne die Gesellschaft als stockkonservatives und gottesfürchtiges Marienland dar. Aber das ist, trotz hundertjähriger CSV-Herrschaft, heute noch weniger wahr als in der Vergangenheit und vielleicht sogar dabei, sich ins Gegenteil zu verkehren.

Vor fünf Jahren, im Februar 2008, verabschiedete eine linksliberale Parlamentsmehrheit das Gesetz, das Ärzten erlaubt unheilbar Kranken zu helfen, ihr Leben zu beenden. Damit gehört Luxemburg mit den Niederlanden, Belgien und der Schweiz zu den ersten Ländern in Europa und weltweit, welche die Euthanasie zulassen. So wurde das Marienland über Nacht oder zumindest in einer Sitzung an einem späten Abend zu einem internationalen Vorreiter gesellschaftlicher Reformen. Bemerkenswert daran war weniger, dass bei diesem Votum die regierende CSV im Parlament in die Minderheit versetzt worden war, nachdem Premier Jean-Claude Juncker die Mehrheitsabgeordneten von ihrem Fraktionszwang entbunden hatte. Bemerkenswert war vielmehr, dass die CSV, die katholische Kirche, der Großherzog, das Luxemburger Wort und Gleichgesinnte in der Öffentlichkeit in die Minderheit versetzt worden waren, wie die 78-prozentige Zustimmung für die Legalisierung der Sterbehilfe in einer Meinungsumfrage zeigte.

Nach einer entsprechenden Absprache im parlamentarischen Justizausschuss soll eine bis zum Sommer verabschiedete Reform des Eherechts bald Männern erlauben, Männer zu heiraten, und Frauen, Frauen zu heiraten. Damit zählt Luxemburg dann zu den nicht einmal anderthalb Dutzend Staaten weltweit, darunter in Europa die Niederlande, Belgien, Spanien, Schweden, Portugal, Dänemark sowie bald Frankreich und Großbritannien, welche die Homosexuellenehe erlauben. Bemerkenswert ist daran, dass dies nicht, wie beim Euthanasiegesetz oder wie bei der Debatte über den mariage gay in Frankreich, zu einem Machtkampf zwischen Linksliberalen und Konservativen wurde, sondern in einem Gesetzentwurf steht, der von einem CSV-Justizminister auf der Grundlage des Koalitionsabkommens zwischen CSV und LSAP eingebracht wurde. Die CSV möchte nicht wieder, wie bei der Euthanasie­debatte, in der konservativen Ecke von einem Teil ihrer eigenen Wählerschaft isoliert werden. In der Öffentlichkeit wird die Reform weitgehend als eine Selbstverständlichkeit angesehen, über die es sich kaum lohnt, viele Worte zu verlieren.

Seit Anfang des Jahres ist die Einführung des Ausländerwahlrechts bei den Parlamentswahlen im Gespräch. Dies bedeutet nicht notgedrungen, dass die Verfassung demnächst dahingehend geändert wird oder dass es keinen offenen oder verhohlenen politischen Widerstand gegen eine solche Revision gibt. Immerhin gilt die Idee, Leute vermittels des repräsentativen Parlamentarismus an den Geschicken der Staates zu beteiligen, die eine andere Staatsbürgerschaft haben, als derart verwegen, dass es derzeit nur drei oder vier Staaten weltweit gibt, die Einwanderer anderer Nationalität an Legislativwahlen beteiligen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass eine solche bis vor wenigen Jahren noch weitgehend unvorstellbare Idee heute in den politischen Mainstream eingeflossen ist und leidenschaftslos debattiert wird. Ja, dass sie laut einer Meinungsumfrage sogar eine Mehrheit unter den Luxemburgern hat, die letztlich vermittels ihrer parlamentarischen Vertreter über die aufsehen­erregende Reform entscheiden können.

Diese rezenten Beispiele zeigen, dass die Luxemburger Gesellschaft, in der auch viele Nationalitäten konfliktarm zusammenleben, während der vergangenen Jahre weltoffener geworden ist, als Teile von ihr selbst wahrhaben wollen. Womit sie sich wohl auch selbst nutzt. Denn im internationalen Vergleich eine gesellschaftspolitische Vorreiterrolle zu spielen, nutzt dem Produktionsstandort bei der Verteidigung seiner Interessen ebenso wie Entwicklungshilfe oder ein Sitz im Weltsicherheitsrat.

Romain Hilgert
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