Kinderrechte

Licht und Schatten

d'Lëtzebuerger Land vom 11.01.2013

Sieben und acht Jahre alt waren die beiden Mädchen, die vor dem Vormundschaftsrichter wegen der Scheidung ihrer Eltern aussagen sollten. Die jüngere von beiden „brach in Tränen aus und schien wie gelähmt“. Ihr Mutter musste ihr gut zureden, bis sie vor dem Richter aussagen konnte.
Das traumatische Erlebnis, das Anwälte während einer Konferenz zum Thema Kinderrechte vor Gericht im Mai vergangenen Jahres beschrieben, ist leider kein Einzelfall. Dass die Anhörung durch pädagogisch nicht ausgebildete Familien- und Jugendrichter für Kinder und Jugendliche oft eine große emotionale Belastung bedeuten, hat das Ombudskomitee für Kinderrechte in der Vergangenheit wiederholt bemängelt. Nun bekommt es Unterstützung: Die Gruppe Radelux, ein Zusammenschluss verschiedener luxemburgischer Nichtregierungsorganisationen, Jugendvereinigungen und (wissenschaftliche) Experten, die im Bereich Kinder- und Jugend arbeiten, haben am 28. Dezember  ihren Schattenbericht zur Lage der Rechte der Kinder in Luxemburg veröffentlicht.
Die Mängel, die die Autoren beanstanden, sind nicht neu. Sie reichen von überlangen Jugendgerichtsprozeduren, über Situation von Scheidungskindern, von Flüchtlings- und Immigrantenkinder, die ohne Vater oder Mutter nach Luxemburg gekommen sind, bis hin zur Isolierung in Jugenderziehungsheimen, Minderjährigen im Gefängnis oder der (mangelhaften) demokratischen Beteiligung der Kinder in der Schule oder der fehlenden Integration von Behinderten. Kurz: (Fast) alle Bereiche, wie sie die entsprechende Konvention der Vereinten Nationen auflistet, haben die Autoren kritisch unter die Lupe genommen.
Luxemburg hat die Kinderrechtskonvention bereits vor gut zwanzig Jahren, im Dezember 1993, ratifiziert. Damit hat sich Luxemburg verpflichtet, die Rechte der Kinder besser zu schützen. Das gelingt aber nur ansatzweise. Zum einen fehlt noch immer ein Aktionsplan. Der 63-seitige Bericht der Gruppe Radelux (Rapport alternatif des ONG sur au 3e et 4e rapport gouvernemental sur les droits de l’efant au Luxemburg) ist Alternativbericht zu dem Tätigkeitsbericht, den das Familien- und Jugendministerium im Oktober 2010 vorgelegt hatte. Das ist schon eine Weile her und seitdem hat sich einiges verbessert: Kinder können von Anwälten vor Gericht unterstützt und vertreten werden. Diese sollten den Kindern aber automatisch in allen Streitfällen zur Seite gestellt werde, auch in außergerichtlichen Verfahren, und minderjährige Zeugen sollten in Abwesenheit ihrer Eltern in einem Büro und nicht im Gerichtssaal angehört werden, um sie emotional so wenig wie möglich zu belasten, empfiehlt die Gruppe Radelux, die überdies einen besseren Übergang zwischen gerichtlichen Prozeduren und sozialarbeiterischen verlangt.
Die Gruppe, bestehend aus Vereinen wie der Sozialarbeiterplattform Ances oder der Initiativ Liewensufank, Info Handicap oder das Jugendparlament, unterstützt damit nicht nur das Ombudskomitee, das in seinem letzten Bericht überlange Gerichtsprozeduren und unübersichtliche Hilfsangebote bei Kindern in Not angemahnt hat. Auch das Luxemburger Komitee des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, Unicef, weist in seinem bereits im Oktober vorgelegten Ergänzungsbericht zum Regierungsbericht auf Widersprüche und Verfahrensprobleme zwischen neu geschaffener Jugendhilfe und dem weiterhin gültigen Jugendschutzgesetz von 1992 hin. Vor allem die mit dem Office national de l’enfance verbundene Bürokratie gefährde wirksame Hilfe für Kinder und ihre Eltern. Die Unicef beruft sich auf die Menschenrechtskommission, die ihrerseits 2011 kritisiert hatte, dass in Luxemburg noch immer die große Mehrheit der Heimeinweisungen von Kindern in Not, rund 80 Prozent, von Richtern verordnet werde und dies autoamtsich mit dem Entzug des Sorgerechts der Eltern verbunden sei.
Damit wächst der Druck auf die Regierung, das Jugendschutzgesetz zu reformieren. Seit Jahren bemängeln vor allem Sozialarbeiter, das Gesetz entspreche heutigen Standards und geltenden internationalen Bestimmungen in der (Sozial-)Arbeit mit Kindern und ihren Familien nicht mehr, die insbesondere durch die UN-Kinderrechtskonvention gestärkt wurden. Im Rahmen der Strafvolllzugsreform hat der Justizminister zugesagt, Minderjährige nicht länger im Erwachsenengefängnis Schrassig einzusperren. Aber ein Reform des Jugendschutzes, die auch den viel kritisierten automatischen Entzugs des elterlichen Sorgerechts neu regeln und den Umgang mit jugendlichen Mehrfachtätern würde, steht weiterhin aus. Aus dem Familienministerium ist zu hören, dass die Jugendschutzreform in dieser Legislaturperiode nicht mehr angegangen werden soll. Darum lange herumkommen wird die Regierung aber nicht mehr, denn die Jugendhilfe bleibe ohne eine Reform der Jugendrichter unvollständig, betont das Unicef-Komitee.
Die Gruppe Radelux nennt noch andere Versäumnisse in puncto Kinderrechte, etwa beim Namensrecht. Laut Kinderrechtskonvention hat jeder Junge, jedes Mädchen ein Recht auf eine eigene Identität, die bei einer anonymen Geburt aber nicht gegeben ist. Auch die Frage des Kinderhandels oder der sexuellen Ausbeutung von Kindern sind Themen, ebenso wie die Rechte von behinderten Kindern, wo Radelux verstärkte Anstrengungen zur inklusiven Lernangeboten für behinderte Kinder in Regelschulen fordert. Alle diese Punkte hatte die Kinderrechtsbeauftragte Marie-Anne Rodesch-Hengesch in ihrem letzten Abschlussbericht nach zehnjähriger Amtszeit ebenfalls beanstandet.
Was in dem 63-seitigen Radelux-Bericht jedoch fehlt, ist die wachsende Kinderarmut. Laut Kinderrechtskonvention hat ein Kind ein Recht darauf, seine existenziellen Grundbedürfnisse erfüllt zu bekommen, sowie auf einen „angemessenen Lebensstandard“. Angesichts eines Armutsrisiko für Kinder von rund 15 Prozent, wobei die staatlichen Transferzahlungen, wie RMG, Kindergeld oder ähnliches, eingerechnet sind, ist es erstaunlich, dass ausgerechnet dieses Phänomen im Alternativbericht ausgespart bleibt. Die Unicef-Autoren zählen in ihrem 20-seitigen Bericht auf einer Seite immerhin ein paar Fakten zur Kinderarmut auf, aber es bleibt weitgehend bei der Bestandsaufnahme: Außer eine Studie zu fordern über die Hintergründe der Kinderarmut, die im Grunde eine Armut der arbeitsloser oder alleinerziehender Eltern ist, sowie den Zugang für kinderreiche Familien zu angemessenen Wohnraum  zu verbessern, fällt der Unicef nichts ein, was die Lage dieser Kinder verbessern kann.
Derweil hat die Regierung weitere Sparmaßnahmen beschlossen, die die Not dieser Kinder und Jugendlichen sogar noch verschlechtern dürften, etwa die Kürzung beim Schulgeld oder die jüngsten Preiserhöhungen im öffentlichen Transport.
Als in Deutschland der Schattenbericht zum Thema Armut vorgestellt wurde, wiesen die Autoren auf einen wichtigen Zusammenhang hin: dass nämlich die steigende Zahl an Hartz-VI-Familien und Kindern in Armut gleichzeitig die Nachfrage nach Billigstprodukten und Billigstarbeit in der Welt erhöht. In der Folge dreht die globale Armutsspirale nur noch weiter und bleiben destruktive Abhängigkeiten bestehen: wenn nämlich Kinder in Bangladesch, Indien und anderswo in ausbeuterischen Lohnverhältnissen Kleidung herstellen müssen, die in Europa dann zu Schleuderpreisen gekauft werden.
Im Februar werden die Vertreter des Kinderrechtskomitees in Genf mit ihren Beratungen zu den Länderberichten beginnen. Dann werden auch die Luxemburger NGOs Gelegenheit haben, ihren Beobachtungen vorzutragen und Verbesserungsvorschläge zu machen. Was das für die politischen Verantwortlichen der Luxemburger Regierung bedeutet, und ob diese sich künftig einen Aktionsplan geben wird, ist ungewiss: Eine Anfrage des Land blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Ines Kurschat
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