Paulette Lenert fühlt sich persönlich dazu bereit, die LSAP in den Wahlkampf zu führen. Politisch ist sie jedoch noch in der Ausbildung

„Ech si prett“

d'Lëtzebuerger Land vom 03.02.2023

Spitzenkandidatin „An da wëll ech iech och soen, dass ech prett sinn. Ech si prett fir d’LSAP, fir zesumme mat menger Partei an dës Wal ze goen“, verkündete Vizepremierministerin Paulette Lenert nach monatelangem Zögern und Zaudern freudestrahlend am 20. Januar beim Neijoerschpatt der Lëtzebuerger Sozialistesch Aarbechterpartei. Die LSAP und die breite Öffentlichkeit hatten sehnsüchtig auf dieses Bekenntnis gewartet. Zum ersten Mal hatte der damalige Fraktionspräsident Georges Engel sie Anfang August 2020 als mögliche Spitzenkandidatin ins Gespräch gebracht, wenige Wochen nachdem im ersten Politmonitor nach Beginn der Corona-Pandemie 90 Prozent der Befragten die neue Gesundheitsministerin als sympathisch und kompetent eingeschätzt hatten. Solche Werte hat in den vergangenen Jahren kein anderer Luxemburger Politiker erzielt. Seitdem hat Paulette Lenert zwar stetig an Zustimmung verloren, konnte ihre Führungsposition im Beliebtheits-Ranking aber Ende November erneut behaupten, weil auch ihre direkten Konkurrenten Jean Asselborn (LSAP) und Xavier Bettel (DP) an Zustimmung eingebüßt haben.

Mit ihrem „ech si prett“ wollte Paulette Lenert der Parteibasis signalisieren, dass sie sich persönlich bereit dazu fühle, die LSAP als nationale Spitzenkandidatin in den Wahlkampf zu führen. Ob sie dafür auch politisch bereit ist? Daran wird bisweilen gezweifelt, selbst innerhalb ihrer eigenen Partei. Denn noch ist unklar, wofür sie eigentlich steht, welche Ansichten sie in wesentlichen Fragen vertritt, insbesondere in denen, die für die LSAP nach wie vor am wichtigsten sind: Sozialstaat, Lohn- und Arbeitsbedingungen, Steuerpolitik und Sozialsysteme. Damit das nicht auffällt, hatte die LSAP beim Neijoerschpatt in Schengen den Raum mit Plakaten und Transparenten dekoriert, auf denen der Slogan „Zäit fir eng staark Sozialdemokratie“ zu lesen war.

Doch in den Folgetagen machte Paulette Lenert die ganze Inszenierung eigenhändig zunichte. Im Interview mit dem Tageblatt erklärte sie, der Index öffne die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter; die Steuerreform, nicht der Index, sei das richtige Instrument, um den sozialen Frieden zu bewahren. Gegenüber Radio 100,7 philosophierte sie, der Index treibe die Gehälter ungebremst in die Höhe, insbesondere die hohen, und die von Dan Kersch im Juli geforderte Reform der Steuertabelle sei „dat natierlecht Instrument“, um den Ausgleich herzustellen. Wenn kein Konsens über eine Steuerreform gefunden werde, könne eine Index-Deckelung der geeignete Weg sein, um die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen, meinte Lenert.

Paradigmenwechsel Die LSAP hat sich seit seiner allgemeinen Einführung vor 50 Jahren nie für eine Deckelung des Index-Systems ausgesprochen. In ihrem Wahlprogramm von 2018 hatte sie sich noch damit gebrüstet, in der vorangegangenen Legislaturper-iode dafür gesorgt zu haben, dass der automatische Index-Mechanismus wieder voll eingesetzt worden sei, und bekräftigte, sie werde auch weiterhin „ohne Abstriche“ an diesem System festhalten. Sollte sich ihre Position inzwischen geändert haben, wäre das ein bemerkenswerter „Paradigmenwechsel“. Allerdings deutet außer den Aussagen von Paulette Lenert nur wenig auf einen solchen Sinneswandel hin, denn am Dienstag, nachdem das Statec bekannt gegeben hatte, die nächste Indextranche falle am 1. Februar, twitterte LSAP-Wirtschaftsminister Franz Fayot: „Den Index-Mechanismus ass essentiel fir d’Präisdeierecht zu Lëtzebuerg auszegläichen an de soziale Fridden ze erhalen“. Fraktionspräsident Yves Cruchten bestätigt Fayots Aussage gegenüber dem Land und bekräftigt, die LSAP stelle den Index in seiner aktuellen Form nicht in Frage.

Was verrät das über die LSAP und ihre Spitzenkandidatin? Ist der Grund für Lenerts Aussagen Unkenntnis oder verfolgt sie damit eine eigene Strategie? Will sie tatsächlich den Index deckeln, wenn keine Übereinkunft über eine Steuerreform erzielt werden kann? Und wäre damit der soziale Frieden in Luxemburg wirklich gerettet?

In ihrer eigenen Erzählung setzt Paulette Lenert sich als Politikerin in Szene, die nicht nach ideologischen Prinzipien handelt, sondern faktenbasierte Entscheidungen trifft, die wissenschaftlich fundiert sein müssen und wohl überlegt sein wollen. Als Beispiel führt sie immer wieder ihre zögerliche Haltung bei der Impfpflicht an. Als die Frage sich vor einem Jahr stellte, haderte sie, wägte ab, und am Ende sprach eine Mehrheit im Regierungsrat sich dagegen aus, obwohl das von Premierminister Xavier Bettel beauftragte Expertengremium eine Impfpflicht für Menschen ab 50 Jahren empfohlen hatte. Da im Herbst keine neue Covid-Variante auftauchte, erwies sich diese Entscheidung als richtig. Paulette Lenert verbucht das als ihren größten politischen Triumph.

Ihr gesamtes politisches Kapital schöpft sie aus der Pandemiebekämpfung. Immer wieder – fast schon nostalgisch – verweist sie darauf, stellt Vergleiche an, auch wenn es um andere Themenfelder geht. Das gelungene Krisenmanagement stellt für sie die politische Berechtigung dar, die LSAP in die Nationalwahlen zu führen. Sie sei als Spitzenkandidatin ins Spiel gekommen „wegen der Art und Weise, wie ich arbeite“, erzählte sie in einem am Montag von der LSAP auf Youtube veröffentlichten Podcast. Die Leute wüssten, dass sie zu den Werten der Partei stehe, sie sei sehr bewegt und motiviert, eine Politik zu machen, die jeden erreiche, die inklusiv sei, das habe sie schon als Beamtin anvisiert.

Kontinuität Die 59-jährige Quereinsteigerin ist bemüht, Kontinuität und Homogenität in ihrer von Brüchen gekennzeichneten Biographie herzustellen: Sie war Anwältin, Richterin, hohe Beamtin erst unter Romain Schneider (LSAP) im Ressort Solidarwirtschaft, dann unter Jean-Claude Juncker (CSV) in der simplification administrative. 2013 machte Dan Kersch (LSAP) sie zur Generaldirektorin für den öffentlichen Dienst und zur Leiterin des Institut national d’administration publique. Der LSAP trat sie erst mit Ende 40 bei. Etienne Schneider holte sie 2018 als Kooperationsministerin in die Regierung, weil er Tess Burton das Mandat nicht zutraute, ein Jahr später löste sie ihn als Gesundheitsministerin ab. In welchem Verhältnis Paulette Lenert „zu den Werten der Partei“ steht, hat sie in ihrer kurzen, doch intensiven politischen Laufbahn erst selten demonstriert. Unbestritten ist nur, dass sie der in der LSAP derzeit dominierenden sozialliberalen Strömung angehört (d’Land, 05.02.2021). Beim Luxembourg-Ukraine Business Forum fühlt sie sich wohler als auf dem Neujahrsempfang der FNCTTFEL.

Der OGBL hat sich am Dienstag nach seiner Nationalvorstandssitzung mit Kritik an seiner historischen Partnerin LSAP zurückgehalten und stattdessen das Patronat und DP-Finanzministerin Yuriko Backes gescholten. Sie hoffe, dass Paulette Lenert noch in sich gehe, um ihre Positionen zu überdenken, sagt OGBL-Präsidentin Nora Back dem Land. Der „gedeckelte“ Index sei ungerecht, die Diskussion darüber werde unehrlich geführt, die Attacken gegen die automatische Lohnanpassung seien überflüssig. Einerseits hätte die Deckelung negative Auswirkungen auf die Anpassung des Mindestlohns, andererseits würde sie vor allem große Unternehmen mit gut bezahlten Angestellten entlasten, nicht aber kleine und mittelständische Betriebe aus Handwerk, Einzelhandel und Horeca, die größtenteils niedrige Gehälter zahlen. Genau wie Yves Cruchten ist Nora Back davon überzeugt, dass eine Deckelung der Anfang vom Ende des Index wäre.

Ob die Juristin Paulette Lenert das versteht? Dass Inklusion auch beinhaltet, die Menschen angemessen am Mehrwert teilhaben zu lassen, den sie selber erwirtschaften. Dass dem Sozialstaat die Rolle zufällt, Eigentum und Vermögen umzuschichten, damit nicht nur eine privilegierte Minderheit davon profitiert. Dass die Rechte und Errungenschaften, die den sozialen Frieden garantieren, von in Gewerkschaften organisierten Arbeiter/innen erkämpft werden mussten. Dass die LSAP sie dabei jahrzehntelang mehr schlecht als recht auf parlamentarischer Ebene unterstützt hat und das bis heute ihre Hauptdaseinsberechtigung ist. Dass ein solides Arbeitsrecht wirksamer und nachhaltiger vor Armut und Ausbeutung schützt als Steuerkredite und staatliche Zulagen. Dem Télécran hatte Paulette Lenert vor Weihnachten erzählt, wenn sie Premierministerin würde, wolle sie die simplification administrative und vielleicht die Digitalisierung zur Chefsache erklären. Aus LSAP-Kreisen heißt es, die Spitzenkandidatin sei für die großen politischen Debatten vielleicht noch nicht bereit, ihre parteiinterne Ausbildung sei noch nicht abgeschlossen.

Versprechen Allerdings stellt sich die Frage, wer diese Ausbildung in der LSAP übernehmen soll. Einen linken Flügel hat die Partei seit mindestens zehn Jahren nicht mehr. Als einziges Überbleibsel gilt Dan Kersch, der selbst gerne Spitzenkandidat geworden wäre, und vielleicht noch Mars Di Bartolomeo, der sie in gesundheitspolitischen Fragen berät. Der OGBL kritisierte am Dienstag die LSAP zwar nicht explizit, doch zwischen den Zeilen ging deutlich hervor, dass die Gewerkschaft mit Arbeitsminister Georges Engel unzufrieden ist, weil der bislang kaum etwas zur Verbesserung des Arbeitsrechts unternommen habe: Reformen im Bereich der Sozialpläne, im Hinblick auf die Maßnahmen zum Beschäftigungserhalt und zur Regelung von Insolvenzen seien nicht umgesetzt worden, obwohl sie im Koalitionsabkommen stehen, sagte Nora Back auf der Pressekonferenz. Auch eine Stärkung der Gesetzgebung zu den Tarifverträgen, die ebenfalls im Regierungsprogramm vorgesehen ist, sei nicht durchgeführt worden. Die meisten dieser arbeitsrechtlichen Reformen hatten DP, LSAP und Grüne schon im Koalitionsvertrag von 2013 versprochen.

Stattdessen hat Georges Engel beim Forschungsinstitut Liser eine Studie in Auftrag gegeben, die die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen einer allgemeinen gesetzlichen Arbeitszeitreduzierung bei vollem Lohnausgleich untersuchen soll. Spätestens Anfang April wolle er sie vorstellen, heißt es aus dem Arbeitsministerium. Diese Maßnahme steht zwar nicht im Regierungsprogramm, kommt im Wahlkampf aber öffentlichkeitswirksamer daher als eine Reform der Tarifvertragsgesetzgebung oder des Streikrechts, die die LSAP 2018 in ihr Wahlprogramm geschrieben hatte. Deshalb packen die Sozialisten die 36- oder 38-Stunden-Woche schon seit Jahrzehnten meist vor den Wahlen aus, um sie dann doch nicht umzusetzen, wenn sie in der Regierung sind, weil ihre jeweiligen Koalitionspartner das nicht wollen. Paulette Lenert möchte sich zur Arbeitszeitverkürzung noch nicht positionieren. Erst will sie die Liser-Studie „mat Interesse“ lesen, um danach vielleicht etwas schlauer zu sein, wenn über das Thema diskutiert wird.

Luc Laboulle
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