Jugendarbeitslosigkeit

Nicht gefunden, nicht gebraucht

d'Lëtzebuerger Land du 23.06.2017

Sich aufzuraffen, um jeden Morgen pünktlich im Büro oder in der Fabrik zu erscheinen, fünf Tage die Woche, ein ganzes Jahr mit Ausnahme von 25 Tagen gesetzlichem Urlaub, 40 Jahre lang, ist eine Gewohnheit, die jedem in Fleisch und Blut übergegangen scheint. Aber doch ist sie alles andere als naturgegeben, liegt sie nicht im menschlichen Erbgut, gehört sie nicht zum Leben wie Essen, Trinken und Schlafen.

Schon die Grundschule versucht, die Kinder mit festen Zeiten, Regeln, Hierarchien und Ritalin für diese unnatürliche Gewohnheit zu zähmen. Irgendwann beim Übergang von der Kindheit zur Jugend setzt dann laut Onkeln und Tanten „der Ernst des Lebens“ ein, die endgültige Abrichtung für den Arbeitsmarkt. Weil dies nicht naturgegeben ist, muss die Disziplinierung mit ökonomischem und gesetzlichem Zwang immer wieder auf Neue erfolgen. So wie einst mit dem Bauernlegen ein für alle Mal mit der ursprünglichen Akkumula­tion das Lohnarbeitsverhältnis durchgesetzt wurde, muss für jede Generation ein neues „Jugendlegen“ stattfinden, um ihre „Arbeitsmarktfähigkeit“, französisch: „employabilité“, herzustellen.

Für die allergrößte Mehrheit der Jugendlichen ist dies eine von ihrem gesellschaftlichen Umfeld abgeschaute, von manchen sogar mit Ehrgeiz begrüßte Selbstverständlichkeit. Aber es gibt in jeder Generation auch Tausende Jugendliche, die sich dieser Abrichtung zu entziehen versuchen, die vom Arbeitsmarkt und aus der Ausbildung für den Arbeitsmarkt verschwinden. Der Weg von der Jugend ins Erwachsenenleben, von der Erziehung in die Arbeitswelt dauert heute länger und ist vor allem für Kinder aus Arbeiter- und Angestelltenfamilien wieder schwieriger geworden, so dass manche ihn nicht finden, andere nicht gebraucht werden, manche Mittel- und Oberschichtenkinder auf dem Weg zum Arbeitsmarkt eine Pause einlegen. Eurostat schätzte die Zahl der Jugendlichen in Luxemburg, die vergangenes Jahr weder arbeiteten noch lernten, auf 3 000 bis 3 500.

Nach den amtlichen Unterlagen von Sozialversicherung, Arbeitsamt, Erziehungsministerium und Studienberatung gab es im März 2012 genau 41 875 Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren hierzulande. Davon waren 5 013 ohne Beschäftigung, Studium, Ausbildung oder Beschäftigungsmaßnahme, was zwölf Prozent ausmacht, einer von acht. Das geht jedenfalls aus einer Studie der Generalinspektion der sozialen Sicherheit, Les jeunes NEETs au Luxembourg, hervor, die auch den Begriff der Neets popularisieren half, der Jugendlichen „not in education, employment or training“.

Neet für junge Arbeitslose, die sich nicht weiterbilden, ist eine Kategorie, die nach dem sozialen Kahlschlag von Margaret Thatcher vor 30 Jahren in Großbritannien erfunden wurde, um die ökonomische und politische Verantwortung für die verheerende Jugendarbeitslosigkeit auf die Unzulänglichkeiten des einzelnen Jugendlichen abzuwälzen. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 wurde der Begriff europaweit übernommen und kam auch hierzulande in Umlauf. Denn zwischen 2007 und 2014 war die Jugendarbeitslosigkeit in Luxemburg von 15,6 auf 22,3 Prozent gestiegen.

Neet-Jugendliche werden vor allem statistisch beschrieben – und rein negativ definiert: Um ihre Zahl zu berechnen, werden von der Zahl der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren die Zahl der Beschäftigten, die Zahl der Schulgänger und die Zahl derjenigen in einer Beschäftigungsmaßnahme abgezogen. Unter dem Strich bleibt eine Art Bodensatz des beruflichen Karrierstrebens, der ursprünglich „status zero“ genannt wurde, später Neet, und als ein diffuser Haufen von Geisterfahrern der Leistungsgesellschaft dargestellt wird.

Der liberale Erziehungs- und Jugendminister Claude Meisch, der vergangene Woche Studien zu den Neets in Luxemburg vorstellte, zeigt reges Interesse an dem Konzept, das die Jugendlichen an ihrer „Arbeitsmarktfähigkeit“ misst. So wie die liberale Familienministerin Corinne Cahen mit der Reform des RMG die Armen für ihr Schicksal verantwortlich machen und für den Arbeitsmarkt „aktivieren“ will.

Laut Laetitia Hauret (Étude sur le lien entre décrochage scolaire et statut de NEET) führt der Schulabbruch am häufigsten dazu, Neet zu werden. Mehr als ein Drittel der Schulabbrecher bekommen weder eine Beschäftigung, noch eine Ausbildung. Auf der Grundlage einer von Liser, dem Ex-Ceps, Ende 2014 bis Mitte 2015 durchgeführten Umfrage versucht Laetitia Hauret (Les NEETs au Luxembourg: Une population hétérogène), die Neets zu beschreiben und zu erklären. Dazu erstellte sie eine hierarchische Clusteranalyse mit Hilfe von 18 Variablen, die das zu untersuchende Problem bei den Jugendlichen und nicht bei dem Arbeitsmarkt oder der Schule festmachen: die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt, die Arbeitsmotivation sowie die Gefährdung durch Armut, Isolation, Familie und Bildungsniveau.

Heraus kommen acht Gruppen, von denen zwei Drittel der befragten Jugendlichen als durchaus „arbeitsmarktfähig“ eingestuft werden, ein Drittel eher nicht. Sieben Prozent der Befragten leiden an einer chronischen Krankheit oder Behinderung, haben oft die Schule aufgegeben und sind wenig qualifiziert. Fünf Prozent sind junge Mütter, die sich vergebens um eine Arbeit oder Ausbildung bemühen, gering qualifiziert sind und wohl auch keine Kinderbetreuung finden. Neun Prozent stammen aus einfachen Verhältnissen, sind wenig qualifiziert, oft Schulabbrecher und wenig motiviert, eine Arbeit zu suchen, weil sie um ihre geringe „Arbeitsmarktfähigkeit“ wissen. Fünf Prozent sind Arme, die gering qualifiziert, aber bereit sind, jede Arbeit zu jedem Lohn anzunehmen.

Zwei Drittel der Neets werden dagegen als für den Arbeitsmarkt brauchbar dargestellt, obwohl sie sich gerade nicht darauf feilbieten oder darauf vorbereiten. Die umfangreichste Gruppe, 43 Prozent der Befragten, wohnen zur großen Mehrheit bei den Eltern, werden von diesen finanziell unterstützt und haben Sekundarschulbildung. Sie unterscheiden sich nur wenig von der zweitgrößten Gruppe (15 Prozent), die ebenfalls vor allem bei den Eltern wohnt, noch gebildeter ist und als vorübergehende Opfer friktioneller Arbeitslosigkeit dargestellt wird. Sechs weitere Prozent werden als freiwillige Neets dargestellt, in der Regel junge Hausfrauen. Auch wenn es diesen bis 24-jährigen Jugendlichen nicht möglich ist, eine selbstständige Existenz zu führen und sie nach einer Einstellung oft in einem prekären Arbeitsverhältnis landen, wird ihre Lage als nicht besorgniserregend dargestellt.

Zehn Prozent der befragten Jugendlichen stammen oft aus bessergestellten Verhältnissen und haben „eine hohe Arbeitsmarktfähigkeit“. Sie zeigen aber ein abweichendes Verhalten, sind polizeibekannt oder rauschgiftabhängig. Was ihre Eignung für den Arbeitsmarkt doch wieder mindert.

Von 1 798 volljährigen Jugendlichen, die Ende 2011 bis Anfang 2012 aus den Beschäftigungs- und Bildungsstatistiken herausfielen, waren 16 Prozent auch noch zwei Jahre später ohne Beschäftigung und Ausbildung. 20 weitere Prozent fanden binnen dieses Zeitraums nur vorübergehend eine Beschäftigung oder Ausbildung, die sie dann aber wieder verloren oder aufgaben.

Das meint Mireille Zanardelli im Cahier statistique der Generalinspektion der Sozialversicherung anhand der Unterlagen der Sozialversicherung und des Arbeitsamts. Genaue Zahlen sind aber nicht verfügbar, weil zum Beispiel niemand die Ursachen kennt, weshalb 20 Prozent dieser Jugendlichen nicht mehr sozialversichert sind. Die einen sind zu Hause ausgezogen und nicht mehr bei den Eltern mitversichert, die anderen stammen wohl aus Einwandererfamilien und haben das Land wieder verlassen, um im Herkunftsland ihrer Familie eine Beschäftigung zu finden.

44 Prozent der Jugendlichen fanden während der Beobachtungszeit eine Beschäftigung, eine Ausbildung oder eine Beschäftigungsmaßnahme, die sie auch am Ende der zweijährigen Periode noch hatten. So dass die Forscherin der Generalinspektion der sozialen Sicherheit schätzt, dass „der Ernst der Lage der Jugendlichen relativiert“ werden muss. Deshalb sollen vor allem die gefährdetsten Jugendlichen ausgemacht werden.

Sämtliche Studien über Neets beklagen, dass diese Gruppe fast bis zur Unkenntlichkeit heterogen sei. Was damit zu erklären ist, dass es keine soziale Kategorie ist, sondern eine Kategorie der Sozialbürokratie, und dass sie die Jugendlichen bloß in ihrem Verhältnis zum Arbeitsmarkt definiert. Wenn es so schwierig scheint, diese Heterogenität einzuordnen, dann weil die soziale Herkunft der Jugendlichen weitgehend ausgeblendet wird. Dabei weist die OECD nach jeder Pisa-Studie auf den extremen Klassencharakter des Luxemburger Schulwesens hin.

Manche Jugendliche, deren „kognitive Fähigkeiten“ in Frage gestellt werden, schätzen vielleicht durchaus realistisch ein, dass sie keine Chance auf einem gnadenlosen Arbeitsmarkt haben, und versuchen deshalb nicht einmal mehr, ihre Ausbildung abzuschließen oder sich beim Arbeitsamt einzuschreiben. Umso mehr, als sie kein Arbeitslosengeld erhalten, wenn sie keine Beiträge gezahlt haben, und es auch das garantierte Mindesteinkommen (RMG) erst ab 25 Jahren gibt.

Romain Hilgert
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