Wie viel Justiz, wie viel Jugendamt bei der Betreuung von Jugendlichen in Not? Fast zehn Jahre nach Einführung der Jugendhilfe ist der Grundkonflikt weiter ungelöst

Konfliktäres Erbe

d'Lëtzebuerger Land du 07.04.2017

Im Kinder- und Jugendhilfebereich dreht seit einigen Monaten eine Anekdote die Runde. Wenn die Richter es anordneten, so wird erzählt, dann müsste das Office national de l’enfance (ONE) ein Kind sogar auf dem Mond platzieren. Gesagt soll den mit Kindesschutzprinzipien eher unvereinbaren Spruch eine Vertreterin der Justiz, gefallen soll er sein in einem verbalen Schlagabtausch mit Vertretern eben jenes Amts, das nach dem Jugendhilfegesetz für die Prüfung und Bewilligung von Erziehungshilfen für Familien in Not zuständig ist.

Ob er nun richtig überliefert ist oder nicht – der kolportierte Ausspruch steht symptomatisch für eine spannungsgeladene Beziehung respektive einen jahrzehntelang schwelenden Dauerkonflikt in der Jugend- und Familienhilfe: nämlich wer wann wie für die Betreuung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen in Not zuständig ist.

Déjudiciarisation lautete das Schlüsselwort, als das Jugendhilfegesetz 2008 nach jahrelangen Debatten im Parlament verabschiedet wurde. So stand es im Motivenbericht. Mit dem Gesetz wollte das damals zuständige Familienministerium die Kompetenzen zwischen freiwilligen Familienhilfen auf der einen und juristischen Zwangsmaßnahmen zur Erziehung auf der anderen Seite trennschärfer ordnen und den Einfluss der Gerichte auf die wirklich schweren Fälle begrenzen. Hintergrund war eine im internationalen Vergleich drastisch hohe Zahl an Heimeinweisungen hierzulande, die durch die Jugendgerichte gesprochen wurden, und die oft ein ganzes Kinderleben andauerten, ein Umstand, der zu Protestnoten von Kinderrechtlern im In- und Ausland führte. Mit dem Jugendhilfegesetz sollten der präventive und der ambulante Hilfebereich ausgebaut, psycho-pädagogische Therapien früher und umfassender zugänglich gemacht werden, mit der Schaffung eines Jugendamtes ONE und so genannten Services de coordinateurs de projets d’intervention (CPI) eine koordinierte fachbezogene Begleitung ermöglicht werden, bevor das berühmte Kind im Brunnen lag, also Polizei und Justiz einschreiten mussten.

Fast zehn Jahren nach Einführung ist die Bilanz des Jugendhilfegesetzes gemischt. In einer Bilanz von 2015 der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Uni Luxemburg zum Jugendhilfegesetz beklagten Sozialarbeiter und Erzieher die bürokratischen Hürden, die mit der Umstellung der Finanzierungsweise des Hilfesystems auf Fallpauschalen verbunden seien. Auch sei das Jugendamt, anders als in Belgien oder Deutschland, weniger eine Fachbehörde, die berät und begleitet, als vor allem ein Kontrolldienst, der darüber wacht, welche Maßnahmen genehmigt und finanziert werden.

Dagegen scheint der Ausbau der ambulanten Familienhilfen und Hilfen zur Erziehung gelungen zu sein: Die Ausagebn für ambulante Familienhilfen steigen, es wurden neue therapeutische Angebote geschaffen, etwa 1 200 Familien werden heute im Rahmen dieser Hilfen vom Jugendamt und unterschiedlichen psycho-sozialen Diensten im ganzen Land betreut. Parallel sinken in staatlichen Heimen die Wartezeiten auf einen Platz, etwa im Françoise Dolto für Babys und Kleinkinder. Laut Tätigkeitsbericht 2016 des Erziehungsministeriums, der im Februar veröffentlicht wurde, hat sich die Zahl der institutionellen Einweisungen bei rund 670 stabilisiert (2015: 670). Die Zahl der Unterbringungen in Pflegefamilien hat die vergangenen Jahre zugenommen, mit einem kleinen Dämpfer im vergangenen Jahr. Das deute darauf hin, so ONE-Direktor Jeff Weitzel auf Land-Nachfrage, dass sich der Akzent langsam von institutionellen Maßnahmen in Richtung ambulanten freiwilligen Hilfen verschiebe. „Es war uns von Beginn an ein Anliegen, institutionelle Hilfen nicht auszubauen. Das ist uns gelungen.“

Damit wäre ein zentrales Ziel des Jugendhilfegesetzes erreicht. Außenstehende mögen zusätzlich steigende Kosten für ambulante Maßnahmen bemängeln. Doch eine Verlagerung hin zu mehr ambulanten statt stationären Interventionen wäre ein Paradigmenwechsel. In der Vergangenheit wurden Erziehungsmaßnahmen in der Regel vom Richter verordnet, nicht selten verbunden mit einer Einweisung in ein Erziehungsheim. Weil damit quasi automatisch der Entzug des elterlichen Sorgerechts verbunden war, erlebten viele Mütter und Väter die Anweisungen der Jugendgerichte als tiefen, oft traumatischen Eingriff in ihr Privatleben.

Der Konflikt zwischen Justizbehörden auf der einen Seite und Eltern, die im schlimmsten Fall manchmal am Abend erfuhren, dass ihr Kind aus der Schule in ein Heim gebracht wurde (eine Praxis, die bis heute existiert, obwohl von Kinder- und Menschenrechtlern scharf kontestiert) konterkariere den Sinn und Zweck erzieherischer Hilfen, sagen Experten seit Jahren unisono. Das Jugendhilfegesetz zielt auf eine konstruktive Beteiligung der Eltern an den Erziehungsmaßnahmen. Kinderrechtlich betrachtet, ist der automatische Entzug des Sorgerechts hochproblematisch: Denn Kinder haben laut UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf ihre Eltern und unnötige Trennungen sollen vermieden werden.

Mit einer Judiciarisation geht zudem die Gefahr einer bleibenden Stigmatisierung einher. In anderen Ländern gehören Labeling-Effekte, negative Folgen durch (zu frühes) Eingreifen von Polizei und Staatsanwaltschaft zum Allgemeinwissen von Jugendschützern, Kriminologen und Strafverfolgungsbehörden, die es gerade bei Kindern und Jugendlichen zu vermeiden gilt, um nicht Abwärtsspiralen zu produzieren. In Luxemburg wurde der Zwangscharakter vom Gericht verordnete Maßnahmen, außer von Kinder- und Menschenrechtsorganisationen, lange Zeit in der Öffentlichkeit wenig kaum kritisch hinterfragt, was auch daran liegt, dass der Heimsektor historisch aus der katholischen Wohlfahrt entstand, die von jeher durch eine entmündigende und paternalistische Kultur geprägt ist.

Das Jugendschutzgesetz von 1992 enthält ebenfalls zahlreiche paternalistische Elemente, den automatischen Entzug des elterlichen Sorgerechts und den großen Ermessensspielraum, den Richter bei der Verordnung von Erziehungsmaßnahmen genießen. Bis heute gibt es keine Studien hierzulande darüber, inwieweit juristische Erziehungsmaßnahmen greifen oder ob sie kontraproduktiv auf Karrieren problematischer Kinder und Jugendlicher wirken.

Das Jugendhilfegesetz sollte dem vorbeugen, in dem es verstärkt auf Prävention setzt. Doch die Reform hatte von Anfang an mächtige Gegner – nicht zuletzt in der Justiz selbst. Zumal die Befürworter einer stärkeren Trennung zwischen Gerichten und Sozialarbeit das Jugendhilfegesetz nur als Anfang einer Totalrevision von Jugendschutz und Jugendhilfe verstanden haben wollten. Sie verwiesen auf Entwicklungen in Belgien, dessen Jugendschutzgesetz das 1992-er-Gesetz inspirierte, wo aber mit der Schaffung eines starken Jugendamts die Déjudiciarisation 2006 eingeläutet wurde.

In Luxemburg ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten, aber sie ist fragil. Jugendrichter verstehen sich als die Hüter der Kinderrechte, was sie oft auch sind. Insbesondere bei Gefahr für Leib und Leben kann eine gerichtlich angeordnete Maßnahme den schützenden Puffer bilden zwischen einer übergriffigen Familie und einem schutzbedürftigen Kind. Die Kontroverse um die Neuordnung des Familienhilfesektors spitzte sich damals so zu, dass die damalige Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) auf Drängen ihres Parteifreunds, den Justizminister François Biltgen, der zeitgleich eine Justizreform vorbereite, in einem Artikel 5 des Jugendhilfegesetzes festschreiben ließ, dass die Gerichte in Kinderrechtsfragen Vorrang vor dem ONE haben. Mit dem Ergebnis, dass das Kompetenzgerangel mit dem Segen des Gesetzgebers bis heute perpetuiert.

Die Beratungen jener Arbeitsgruppe, die der grüne Justizminister nach Amtsantritt einberief und zu der er Jugendrichter, Staatsanwaltschaft, den Kinderrechtsbeauftragten, die Menschenrechtskommsison, die Kontrolleure des Service contrôle externe des lieux privatifs de liberté sowie Vertreter beider Ministerien einlud, hat den Konflikt offenbar nicht überwunden. Félix Braz machte deutlich, dass von ihm keine Grundsatzreform zu erwarten ist; der Auftrag der Arbeitsgruppe lautete, das bestehende Jugendschutzgesetz von 1992 in wichtigen Punkten zu ergänzen.

Doch was nach monatelangen Beratungen als ein Konsens in zentralen Punkten betrachtet wurde und eigentlich in einem Gesetzentwurf münden sollte, scheint brüchiger als gedacht: Plötzlich ist von Forderungen seitens der Richter zu hören, auf die Datenbank des Jugendamts zugreifen zu wollen, ein Ansinnen, das ONE-Direktor Jeff Weitzel schon aus datenschutzrechtlicher Sicht „problematisch“ findet. Nur wenn sich der Zugriff strikt auf die Justizfälle beschränkte, kann er sich den Zugang vorstellen. Aber was bedeutet dies beispielsweise, bei Kleinkindern, die in einem Heim geboren wurden? Andernfalls wäre das mehr Judiciairisation statt weniger.

Hintergrund der Forderung der Richter ist, dass mit der universitären Zwischenbilanz der Jugendhilfe entschieden wurde, die 25 CPI dem Jugendamt zuzuordnen: Um mehr Qualität und Fachlichkeit in die Entscheidungen über die Hilfen zu bringen, eine Schlussfolgerung aus der Zwischenbilanz, arbeiten sie seit Anfang Januar unter der Leitung des Jugendamts, sie besuchen Familien, prüfen Erziehungsmaßnahmen und genehmigen gegebenenfalls neue. Weil aber die CPI als Fallmanager auch von der Justiz konsultiert werden und der Service centrale d’assistance sociale, der eigentlich den Gerichten zuarbeiten soll, hoffnungslos mit Arbeit überhäuft ist, verlagert sich nun der Streit auf die Rolle der CPI: Manch ein Richter sieht sie eher als ausführende Dienste, denn als Sachbearbeiter einer Fachbehörde, die immerhin 57 Mitarbeiter zählt und zunehmend eigene kinderrechtliche Impulse in den Fachdiskurs trägt.

Auf Land-Nachfrage spricht der Leiter der Abteilung Enfance et Jeunesse im Erziehungsministerium, Regierungsberater Manuel Achten, von „konstruktiven Beratungen“. Dass es „kulturell unterschiedliche Sichtweisen“ in punkto Kinderrechte zwischen Jugendrichtern und Familienhilfe gibt er aber zu. Gleichwohl betont Achten, wie wichtig es sei, sich „nicht in der Strukturlogik zu verfangen“, sondern „konkrete Lösungen auf der Fallebene zu finden“, was wohl bedeutet, dass die politisch Verantwortlichen die Grundsatzfrage weiterhin nicht angehen. Lieber setzen sie auf „einen verbesserten Austausch“, was immer das sein mag. Der Artikel 5 im Jugendhilfegesetz wird auch in Zukunft nicht angetastet – obwohl es im Sinne einer echten Déjudciarisation logisch wäre, ihn, wenn nicht abzuschaffen, so doch präziser zu fassen. Die Geschichte der Jugendhilfe zeigt: Es wäre nicht das erste Mal, dass Kinder und Jugendliche in Not Verlierer dieses ungeklärten Dauerkonflikts sind.

Ines Kurschat
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