Am gestrigen Donnerstag diskutierte das Parlament eine Motion des CSV-Abgeordneten und Grevenmacher Bürgermeisters Léon Gloden, um die Möglichkeit, Arme aus den Einkaufsstraßen zu verjagen, in den Gesetzentwurf zur Polizeireform zu schreiben. Die Regierungsmehrheit lehnte den Antrag ab, weil es allen Beteiligten bloß um die Gemeindewahlen im Herbst ging: Die CSV wollte im Namen von Recht und Ordnung die DP bloßstellen, die in der Hauptstadt seit Jahren den Platzverweis verlangt, sich aber in der Regierungskoalition damit nicht durchsetzte.
Der Autor der Motion wünschte sich, „schnell und unbürokratisch“ mit den Armen aufräumen zu können, wenn „Bürger und Bürgerinnen sich in ihrem subjektiven Sicherheitsgefühl beeinträchtigt“ fühlen oder „Frauen und ältere Leute sich subjektiv unwohl fühlen“. Der Minister für innere Sicherheit, Etienne Schneider (LSAP), hielt aber einen Platzverweis für überflüssig, weil seine Polizei sich schon heute auf „drei Artikel“, vom administrativen Gewahrsam bis zum Schankgesetz, berufen könne, „wenn Bettler aus der Rolle fallen“.
Dabei sind sich fast alle einig, dass die Polizei Bettler und Obdachlose aus den teuren Einkaufsstraßen verbannen soll. Denn nur so ist den wohlhabenderen Kunden und Geschäftsleuten ein subjektives Shopping-Erlebnis zu gewährleisten, das nicht durch den Anblick von Armut getrübt wird, der es manchmal sogar an Sauberkeit und Manieren fehlt. Nur durch die Möglichkeit des Platzverweises scheinen manchen die Groussgaass und die Philippsgaass mit den von privaten Sicherheitsfirmen abgeschirmten Einkaufszentren am Stadtrand wettbewerbsfähig zu bleiben.
Nachdem in der Design City Luxembourg auf öffentlichen Plätzen und an Bushaltestellen immer neue Sitzgerüste installiert wurden, die es Obdachlosen unmöglich machen sollen, sich niederzulegen, soll der Platzverweis das Recht der Armen auf Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum weiter einschränken. Der Preis dafür ist, dass CSV, DP und ADR die Armut als Antwort auf Proudhons Kriminalisierung des Besitzes kriminalisieren wollen und dabei einer Jahrhunderte alten Tradition gehorchen (d’Land, 28.8.2015).
Wenige Tage zuvor hatte Außenminister Jean Asselborn vorgeschlagen, dass die Europäische Union, wenn schon mangels Regierung nicht mit Libyen, so doch mit den anderen nordafrikanischen Staaten Verträge abschließen soll, damit sie gegen Bezahlung Europa die Armen aus Afrika vom Hals halten.
Einen neuen Umgang mit der Armut verfolgt auch die vorigen Monat vorgestellte Reform des Revenu minimum garanti (d’Land, 20.1.2017). Das RMG war vor 30 Jahren geschaffen worden, als eine bis dahin hartnäckig geleugnete Tatsache ins öffentliche Bewusstsein gerückt und von einem Gutachten des Wirtschafts- und Sozialrats untermauert wurde: dass es infolge der großen Krise der Siebziger- und der frühen Achtzigerjahre „im reichen Luxemburg“ Arme gab. Laut Motivenbericht zum Entwurf des RMG-Gesetzes sollte damals mittels eines Einkommenszusatzes oder eines Einkommensersatzes „allen Bürgern ein Minimum an Existenzmitteln gewährleistet“ werden.
Der Motivenbericht von 1986 scheute sich nicht die Armen „Arme“ zu nennen. Heute greift man dagegen auf allerlei Hüllwörter aus dem Soziologenjargon, wie „sozial Benachteiligte“ oder „Minderbemittelte“ zurück, damit die Armen in der Leistungsgesellschaft merken, wie unanständig es ist, arm zu sein. Im neuen Gesetzentwurf geht kein einziges Mal die Rede von Armen, so wie das Statut unique das Wort „Arbeiter“ abschaffte.
Aus dem bisherigen Revenue minimum garanti soll demnächst ein Revenu d’inclusion sociale werden. Damit gibt die Regierung zwei Schlüsselbegriffe auf: „minimum“ und „garanti“. „Minimum“ hieß, dass der Gesetzgeber die Armut nicht durch Umverteilung auf Kosten der Reichen beseitigen, sondern sie hinnehmen wollte. Aber es hieß auch, dass Armut nicht mehr grenzenlos sein durfte, dass es einen Unterschied zwischen politisch akzeptabler Armut und mit einer Demokratie, einem Sozialstaat unvereinbarem Elend gab.
Vielmehr wurde gesetzlich ein Höchstmaß an individueller und damit auch gesellschaftlicher Armut festgelegt, dessen Überschreitung durch ein Mindesteinkommen verhindert wurde. Womit sich gleich die Frage nach der Quantifizierung der erträglichen Armut stellte. Die sozial- wie haushaltspolitisch delikate Frage, wie viel Armut erlaubt sein sollte, wo das biologische oder gesellschaftliche Existenzminimum lag, umging die Regierung 1986, indem sie es ohne Angaben von Gründen im Motivenbericht „vollkommen undurchführbar“ nannte, das „absolute Minimum an Bedürfnissen festzustellen“. Statt der absoluten Armut wollte sie nicht einmal die relative Armut definieren, sondern das Mindesteinkommen vielmehr „im Verhältnis zur Gesamtheit der Sozialleistungen bestimmen“ (S. 16).
Artikel fünf des nun vorliegenden Gesetzentwurfs beziffert die „nötigen Mittel zur Bestreitung ihrer elementaren Bedürfnisse (Ernährung, Hygiene, Kleidung zum Beispiel)“ von Erwachsenen auf monatlich 684,09 Euro, zu denen noch einmal 684,09 Euro pro Haushalt für „Wohnungskosten (Miete, Wasser, Elektrisch, Versicherungen unter anderem)“ hinzukommen. Die elementaren Bedürfnisse von Kindern lassen sich danach mit 189,14 Euro monatlich erfüllen oder mit 275,19 Euro bei Kindern von Alleinerziehern.
„Garanti“ ist der zweite Schlüsselbegriff, der mit der geplanten RMG-Reform aufgegeben werden soll. Er schafft die 1986 geschürte Vorstellung ab, dass arme Haushalte ein gesetzlich verbrieftes Recht auf den gesamtgesellschaftlichen Solidaritätsakt eines Mindesteinkommens erhalten sollten. Dass es eine Art staatliche Versicherung gab, um jeden Einwohner des Landes nicht vor der Armut, aber wenigstens vor der Verelendung zu schützen. Auch wenn dieses Recht von Anfang an Jugendlichen, rezent Eingewanderten oder nicht für den Arbeitsmarkt Verfügbaren abgestritten wurde.
Bereits durch die Reform von 2000 wurde die Idee des Contrat d’insertion eingeführt, laut dem jeder Arme einen Vertrag mit dem Staat abschließen soll, der seine Pflichten festhält, um sich in die Gesellschaft eingliedern zu lassen – wobei mit Eingliederung in die Gesellschaft die Eingliederung in den Arbeitsmarkt gemeint war. Wenn er diese Pflichten nicht erfüllen kann oder will, läuft der Arme Gefahr, sein Recht auf Schutz vor der Verelendung zu verlieren. So als gäbe es im Sinn der klassisch liberalen Mikroökonomie einen Armutsmarkt, wo der Arme und der Staat gleich informierte und gleich starke Vertragspartner wären und der Arme dem Staat ein Quantum seiner Armut verkaufen könnte.
Selbstverständlich diktiert der Staat einseitig die schon durch Gesetz vorgegebenen Vertragsbedingungen, aber das Ziel des Handels soll es sowieso bloß sein, die Armen „zur Verantwortung zu ziehen“. Dadurch werden nicht mehr wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse für die Armut verantwortlich gemacht, sondern der einzelne Arme, der nicht fähig ist, den von ihm unterzeichneten Vertrag einzuhalten. Armut soll so als Ergebnis von Charakterschwäche erscheinen, zu der dann der Makel der Vertragsbrüchigkeit hinzukommt. Politische Maßnahmen zur Verringerung der gesellschaftlichen Unterschiede und zur wirtschaftlichen Umverteilung erscheinen so unbegründet.
Hatte der Motivenbericht von 1986 noch festgestellt, dass „Armut zuerst, zum einen oder anderen Zeitpunkt, eine Frage ungenügender finanzieller Mittel ist, um dem Haushalt ein dezentes Leben zu sichern“ (S. 15), so geht es 2017 um „die Aufteilung der Kundschaft von Adem und Snas“, von Arbeitsamt und Sozialamt (S. 8). Arbeitslose Arme, die das Arbeitsamt nicht als Working Poor zu vermitteln versteht, auch wenn künftig ein Viertel ihres Lohns nicht mehr vom Mindesteinkommen abgezogen wird, werden zuerst vom Sozialamt „stabilisiert“. Womit die Ursachen von Armut vielleicht nicht mehr, wie vor 100 Jahren der Pauperismus, als moralisches Scheitern dargestellt, so aber doch pathologisiert und therapiert, also individualisiert werden. Bessergestellte, die andere staatliche Zuschüsse beantragen, müssen sich übrigens nicht therapieren lassen.
Der Contrat d’insertion soll nun Contrat d’activation heißen, da „activation“ das neue Zauberwort zur Verwaltung der Armen ist, das gleich 194 Mal (sic) im Gesetzentwurf vorkommt. Diese Metapher stellt den Armen als einen passiven, das heißt arbeitsscheuen Mechanismus dar, der von der weiter ausgebauten Sozialbürokratie aktiviert, also in Gang gesetzt werden muss. Die Aktivierung ist eine von der Europäischen Union mit Hilfe der Europäischen Beschäftigungspolitik im Rahmen des Stabilitätspakts geförderte liberale Form der Sozialpolitik, um diese der Wirtschaftspolitik unterzuordnen. Der Soziologe Jean-Claude Barbier nennt sie „des dispositifs visant, au moins partiellement à délégitimer, sous le couvert de justifications orthodoxes de politique économique, la protection sociale (assistance et assurance chômage) considérée comme décourageant la recherche de travail“ (Revue française de sociologie, 2002, S. 311). Dabei wissen nicht nur die Armen, dass sie mit allerlei Zwangsmaßnahmen auf einen Arbeitsmarkt gedrängt werden sollen, wo ihre meist niedrige Qualifikation gar nicht gefragt ist.
Der Titel ist derjenige eines „petit poëme en prose“ von Charles Baudelaire aus le Spleen de Paris (1869).