„In Luxemburg genießen Mädchen und Frauen mit Behinderungen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten auf derselben Ebene wie Jungen und Männer mit Behinderungen“, lautet ein Satz aus dem Länderbericht Luxemburgs von 2014 zur Umsetzung des Aktionsplans Handicap. Ob das, was verfassungsrechtlich durch den Gleichheitsgrundsatz gewährt wird, auch in der Realität Bestand hat, steht jedoch auf einem anderen Blatt.
Tatsächlich sind schon nicht-behinderte Frauen zahlreichen strukturellen Benachteiligungen und Machtverhältnissen ausgesetzt (siehe häusliche Gewalt, Lohnschere, Vereinbarkeitsproblematik). Viel spricht dafür, dass es bei Frauen mit Behinderungen nicht anders ist, sie möglicherweise sogar doppelt diskriminiert werden: als Frau und als Mensch mit einer Behinderung.
Laut Schattenbericht fehlen allerdings für Luxemburg diesbezügliche Daten. Es gibt jedoch Hinweise auf möglicherweise eklatante Menschenrechtsverletzungen. Besonders brisantes Beispiel ist der Umgang mit Zwang, Gewalt und potenziellem Machtmissbrauch (der nicht nur Frauen betrifft). Aussagen von Betroffenen und vom Pflegepersonal zufolge sollen Frauen mit Behinderungen im gebärfähigen Alter, die in Heimen leben, teilweise Verhütungsmittel verabreicht bekommen haben, ohne dass sie zuvor ihre Einwilligung gegeben hätten.
Sollte dies stimmen, könnte das ein schwerer Verstoß gegen das Recht auf eigene Lebensführung sein, die bei allen Menschen (auch jenen mit Behinderungen) grundsätzlich eine selbstbestimmte Sexualität einschließt. Ob daraus nun ein Recht abzuleiten ist, auf gekaufte, staatlich flankierte Sex-Dienstleistungen, wie das seit einiger Zeit in Altersheimen und in Behindertenkreisen diskutiert wird, sei einmal dahin gestellt (allerdings dürfte eine solche Debatte, im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes, nicht nur aus der Perspektive männlicher (hetero-)sexueller Bedürfnisse erfolgen).
Leider bleibt unklar, was es mit den schweren Anschuldigungen auf sich hat. Namen der Betroffenen und der Institutionen tauchen in dem Bericht nicht auf. Das Land hat versucht, Zeugen für die Aussagen zu finden, konnte aber bis Redaktionsschluss keine finden. Auf Nachfrage bei den Autoren des Schattenberichts berufen sich diese verständlicherweise auf die Vertraulichkeit.
Das Kapitel „Schutz vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch“ thematisiert überdies das Problem der häuslichen Gewalt. Oft geschehen Gewalt und Machtmissbrauch im unmittelbaren sozialen Nahbereich. Wegen ihrer Abhängigkeit von Angehörigen und/oder Pflegepersonal zählen Menschen mit Behinderungen zu den „personnes vulnérables“. Doch statt nun diese Verletzlichkeit durch strukturell verankerte Maßnahmen (Kontrollen, Verhaltenskodexe, Beschwerdewege, Ombudsstellen) zu schützen, fehlen spezifische Schutzvorkehrungen weitgehend.
Der Service de contrôle externe des lieux privatifs de liberté hat in der Vergangenheit systematische Rechtsverletzungen in Kinderheimen, Haftanstalten und in der Psychiatrie aufgedeckt. Allerdings ist unklar, inwieweit die Kontrolleure auch zuständig sind für Alten-, Pflege- und Behindertenheime, die grundsätzlich nicht gedacht sind, Menschen wegzusperren (auch wenn sie vielleicht teilweise so wirken).
Nach der Enthüllung von Missbrauch und Gewalt in Kinderheimen vor fast zehn Jahren begann hierzulande eine zögerliche Debatte über institutionelle Gewalt und darüber, dass Schutzbedürftige in Heimen in der Vergangenheit missbraucht und gequält und die Täter und Täterinnen (nicht wenige aus dem Umfeld der Kirche) nie für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen wurden. In dem Kontext forderten Experten und Betroffene wiederholt, unabhängige Ombudsstellen oder Kontaktpersonen in staatlichen und privaten Heimen zu schaffen. In einigen Einrichtungen, vor allem im Altenbereich, gibt es Verhaltenskodexe und Beschwerdestellen, aber verbindliche Leitlinien, und diesbezügliche Kontrollen, für den Umgang mit schutzbedürftigen Personen, die landesweit gelten, fehlen. „Das Problem ist doch, dass viele sich nicht trauen von Übergriffen zu berichten, weil sie Repressalien durch das Personal oder die Heimleitung befürchten“, mahnt Patrick Hurst von Nëmme mat eis.
2014 erschien ein Buch des Psychologen Dieter Ferring und des Soziologen Helmut Willems von der Uni Luxemburg zu Macht und Machtmissbrauch in Institutionen, an dessen Veröffentlichung sich eine Konferenz anschloss. In Luxemburg steht die Reflexion über institutionalisierte und institutionelle Gewalt (und den Schutz davor) ganz am Anfang. Das gilt leider auch für andere Bereiche, wie dem Jugendschutz, den Strafvollzug oder die Psychiatrie. Erschreckend, dann zu lesen, dass offenbar nicht wenige von der (mutmaßlichen) Praxis der Zwangsmedikamentierung in Heimen gehört haben – und sie gleichwohl nicht zu unterbinden versuchen.
Die Organisationen, deren (staatlich finanzierter) Auftrag es ist, die Rechte der Betroffenen zu verteidigen und durchzusetzen, bestätigen auf Land-Nachfrage, sie hätten ebenfalls von solchen Berichten gehört. Sie seien aber nie „direkt mit Aussagen konfrontiert“ worden, sagt Silvio Sagramola, Leiter von Info-Handicap. Gefragt, was seine Organisation unternommen habe, um den Vorwürfen über systematische Menschenrechtsverletzungen im Behindertenbereich nachzugehen, antwortete der Leiter von Info-Handicap, man sei dem nicht nachgegangen, „weil wir keine Strategie hatten“.
Info-Handicap ist eine von fünf Vereinigungen, die ein Verbandsklagerecht haben, also vor Gericht im Interesse ihrer Klientel klagen könnten. Allerdings hat die Organisation eigenen Aussagen zufolge von diesem Recht bisher noch nicht Gebrauch gemacht. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie zahlreich und identisch die Schilderungen von Diskriminierungserfahrungen im Schattenbericht sind. In anderen Ländern wird schon mal die eigene Regierung verklagt, wenn sie gegen Antidiskriminierungsauflagen verstoßen. In Luxemburg hat bisher nur die Ausländerorganisation Asti Klage vor Gericht erhoben (es ging um Rassismus).
Das Recht auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit hat Verfassungsrang, auch wenn es im der Luxemburger Verfassung von 1848 nicht expressis verbis steht; auch die EU-Menschenrechtskonvention und die EU-Grundrechtecharta gestehen allen Bürgerinnen und Bürgern, also auch jenen mit Behinderungen, ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Würde zu. Allerdings ist Papier geduldig: Manchmal muss man für diese Grundfreiheiten kämpfen und sie notfalls einklagen.