Ohne die Kinder zu impfen, sei keine Herdenimmunität möglich, heißt es. Doch das darf nicht das einzige Argument sein, wenn es um Corona-Impfungen für Kinder geht. Ist es auch nicht

Sorgfältig prüfen, dann impfen

d'Lëtzebuerger Land vom 14.05.2021

Die USA sind das zweite Land, das nach Kanada den Impfstoff von Biontech/Pfizer auch für Kinder von zwölf bis 15 Jahren freigegeben hat. Am Mittwoch teilte dies die US-Arzneimittelbehörde FDA in Maryland mit, schon in den nächsten Tagen würden die ersten Impftermine vergeben.

In Europa muss man sich gedulden: Die Europäische Arzneimittelagentur Ema prüft derzeit noch die Zulassung. Es sei wichtig, dass die Ema „mit genügend Zeit und mit sehr viel Sorgfalt und Genauigkeit prüft“, so Jörg Dötsch, Kinder- und Jugendarzt und Präsident der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland, damit das Medikament „mit höchstmöglicher Sicherheit“ eingesetzt werden kann. Bei den bereits in der EU zugelassenen Corona-Impfstoffen vergingen zwischen Antrag und Zulassung einige Wochen. Für Kinder und Jugendliche gilt das Zulassungsverfahren als aufwändiger als für Erwachsene.

Luxemburg ist nicht USA Auch in Luxemburg verfolgt man die Entwicklungen mit großer Aufmerksamkeit. „Ohne die Kinder zu impfen, ist Herdenimmunität in Luxemburg nicht möglich“, sagt Isabel De La Fuente Garcia von der CHL-Kannerklinik dem Land. Wegen der jungen Bevölkerung, rund 20 Prozent sind Kinder und Jugendliche, sei die Impfung der Kinder wichtig, so die Infektiologin und Kinderärztin. Schließlich können sie das Virus übertragen. Eine Sicht, die vom Gesundheitsministerium geteilt wird: Es sei „logisch, auch die Jugendliche zu impfen, wenn der Impfstoff einmal zugelassen ist“, so die Antwort des Ministeriums auf eine parlamentarische Anfrage des ADR-Abgeordneten Jeff Engelen. „Das würde sicher zur Herdenimmunität beitragen“, sei aber nur möglich, „wenn der Impfstoff formell von der Ema für die Alterskategorie zugelassen wird“, so das Ministerium weiter.

Doch ist es wirklich so logisch? Zunächst ist die kollektive Abwehrkraft eine wackelige Größe: Obwohl sie als Schutzmantel für alle angepriesen wird und der US-Chefvirologe Anthony S. Fauci die Herdenimmunität als das Ziel der US-Impfstrategie nennt, ist die Euphorie dort deutlich abgekühlt: Es zeichnet sich ab, dass breite Bevölkerungskreise in den USA sich offenbar nicht impfen lassen wollen. Laut CBC sind dort inzwischen 115,5 Millionen Menschen geimpft worden, das entspricht rund einem Drittel der US-Bevölkerung, ein weiteres Drittel hat, Schätzungen zufolge, Covid-19-Antikörper. In den USA gehen viele Expert/innen daher davon aus, dass die Herdenimmunität dort nicht mehr zu erreichen sei.

In Luxemburg sieht die Situation aber besser aus: Die Impfakzeptanz bisher ist gut, bei den 70- bis 100-plus-Jährigen lag sie zuletzt bei etwas über 80 Prozent, bei den 60- bis 69-Jährigen bei 74 Prozent, die 50- bis 59-Jährigen sind dabei, geimpft zu werden. Dort liegt die Rate momentan bei 66,2 Prozent, aber noch sind nicht alle Termine vergeben. Die 40- bis 55-Jährigen gelten allgemein als die skeptischeren Jahrgänge. Der Ansturm auf Astrazeneca scheint für eine gute Impfakzeptanz auch bei Jüngeren zu sprechen, wohl auch, weil sich damit viele erhoffen, alte Freiheiten zurückzugewinnen – trotzdem ist das Match noch lange nicht gewonnen. Die neuen Mutationen, die als wesentlich ansteckender gelten, erschweren das Erreichen des Ziels. Die Herdenimmunität hängt nämlich, zusammengefasst, mit der Infektiosität eng zusammen: Je ansteckender das Virus ist, desto mehr Leute müssen dagegen immun sein, um einen Schutz für die gesamte Bevölkerung zu erzielen. Im Herbst war man noch von 60 bis 70 Prozent Immunität für Herdenimmunität ausgegangen. US-Expert/innen schätzen diesen Wert wegen der Varianten heute auf 80 bis 95 Prozent. Für Luxemburg konnte die Pressestelle des Gesundheitsministeriums keinen konkreten Wert nennen. Sollte der US-Wert auch hier zutreffen, müsste sich praktisch jede/r impfen lassen, um einen größtmöglichen Schutz der Bevölkerung zu erreichen. Auch die Kinder.

Hinzu kommt, dass bei Kindern eine besondere Sorgfaltspflicht gilt und das altruitische Argument der Herdenimmunität nicht der einzige Grund sein darf, um ein Impfen mit einem recht unbekannten Wirkstoff zu rechtfertigen. Normalerweise können Kinder an einer Medikamenten-Studie nur teilnehmen, wenn sie ohnehin eine medizinische Behandlung benötigen. Gesunde Kinder kommen lediglich dann als Teilnehmende in Betracht, wenn ein Impfstoff oder ein anderes Medikament zur Krankheitsvorbeugung oder für eine Vorsorgeuntersuchung getestet werden soll, von dem sie selbst etwas haben.

Direkter Nutzen? Der Impfstoff muss also einen direkten Nutzen für die beteiligten Kinder haben. Es gibt Ärzte, die dies mit Verweis auf die relativ milden Krankheitsverläufe von Covid-19 erkrankten Kindern bestreiten. Die meisten Kinder mit Sars-CoV-2-Infektion bleiben asymptomatisch oder weisen nur leichte Symptome auf. Zu den vorherrschenden klinischen Merkmalen gehören anhaltendes Fieber und gastrointestinale Symptome, zum Beispiel Bauchschmerzen, Erbrechen oder Durchfall.

Auch in Luxemburg sind bisher nur wenige Fälle bekannt, wo Kinder ins Krankenhaus mussten, und nur rund sieben Prozent der an Covid-19 erkrankten Kinder mit schwerem Verlauf mussten auf die Intensivstation. Hierzulande ist bisher kein Kind an Covid-19 gestorben. „Wir hatten keinen tödlichen Fall, aber wir hatten sechs Fälle des pädiatrischen multiinflammatorischen Syndroms (Pims), die wir klar zuordnen konnten,“ so Isabel De La Fuente Garcia. Diese Überreaktion des Immunsystems, die meist drei bis vier Wochen nach einer Covid-19-Erkrankung auftritt, sei zwar sehr selten, könne aber zu Multi-Organ-Versagen führen. Generell scheint Luxemburg Glück gehabt zu haben: Zwar ist die Zahl der an Covid-19 erkrankten Kinder während der zweiten Welle gestiegen, aber so einen Anstieg an Komplikationen, wie beispielsweise in Großbritannien, habe man bisher nicht beobachtet. „Wir sind dabei, eine retrospektive Studie anzufertigen, für die wir die Krankheitsverläufe der an Covid-19 erkrankten Kinder zu analysieren versuchen“, erzählt Ärztin De La Fuente Garcia. Dafür habe man 500 Familien angeschrieben, deren Kinder wegen Covid-19 hospitalisiert wurden.

Grundsätzlich aber sei mit der britischen Mutation, die in Europa (und auch in Luxemburg) dominiert, die Gefahr eines Long Covid-Verlaufs bei Kindern gestiegen. Eine Vorstudie aus Italien, die kürzlich auf dem Preprint-Server medRxiv veröffentlicht wurde, wies bei 129 an Covid-19 erkrankten, hospitalisierten Kindern drei Mal Pims nach, darüber hinaus hatten fast 53 Prozent mindestens ein Krankheitssymptom 120 Tage nach erstellter Diagnose. In Großbritannien waren Expert/innen aufgrund der B 1.1.7.-Variante zuletzt von rund 20 Prozent Covid-19-Erkrankungen bei Erwachsenen ausgegangen, die in Long Covid münden, sowie zehn Prozent bei an Covid-19 erkrankten Kindern. Im CHL waren vereinzelte Fälle von Kindern mit Lungenproblemen, Migräne und anderen neurologischen Komplikationen aufgetreten.

Neue Technologie Allerdings bleibt die Sterblichkeitsrate bei Kindern bis 19 Jahre mit weniger als 0,48 Prozent an allen bis dato in den USA, UK, Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien und Südkorea erfassten Corona-Toten laut einer im März in der Medizin-Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichten Studie sehr niedrig. „Entscheidend ist nicht nur die Sterblichkeit, es geht um ihre gesamte Gesundheit und ihr Wohlbefinden“, betont Isabel De La Fuente Garcia. Ein weiteres Argument für eine Impfung sei die durch den Impfschutz gewonnene Freiheit: Kinder leiden unter den Corona-Schutzmaßnahmen ganz besonders. Sozialen Abstand halten zu müssen, die Freund/innen nur eingeschränkt treffen zu können und Schulausfall bedeuten für die mentale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen eine besondere Belastung. So gesehen, wäre eine Impfung aus ethischen Gründen vertretbar – sofern die Nebenwirkungen sich in Grenzen halten.

Dies wird von der Ema genau geprüft. Die bisherige Datenlage für den Pfizer-Impfstoff ist nach Aussagen von Biontech-Chef Uğur Şahin „ermutigend“. Erste Tests an Teenagern hatten eine Wirksamkeit von fast 100 Prozent ergeben. Bisher ist jedoch nicht klar, was die Langzeitwirkungen für Kinder sein könnten. Die mRNA-Impftechnologie ist noch neu und wurde mit den Corona-Vakzinen erstmalig bei Erwachsenen eingesetzt. Gerade bei kleineren Kindern müssen Wirkung, Verträglichkeit und die richtige Dosis genau untersucht werden. In Europa gehen Experten daher davon aus, dass die Zulassung noch dauern (Deutschlands Gesundheitsminister Jens Spahn hat die Zulassung für Teenager für nach den Sommerferien / September in Aussicht gestellt) und gerade für kleinere Kindern vor nächstem Jahr kein Impfstoff bereitstehen wird.

In den USA sieht Daniel Griffin, Professor für Immunologie an der Columbia Universität in New York, statt Biontech/Pfizer den Johnson&Johnson-Impfstoff bei Kindern im Vorteil: Die Technologie sei für Kinder besser geeignet, auch weil eine Impfung nur eine Spritze benötige, so Griffin, statt zwei wie bei Pfizer oder Moderna. Bisher liegt aber kein Antrag auf Zulassung von Johnson&Johnson für Kinder in Europa vor. Astrazeneca hatte mit Tests an Kindern begonnen, wegen der (sehr seltenen) Sinusvenenthrombosefälle wurden diese aber gestoppt. „Wir brauchen bei Kindern eine annähernd hundertprozentige Sicherheit“, betont Isabel De La Fuente Gracia. Bisherige Erfahrungen mit der mRNA-Technologie in puncto Nebenwirkungen seien indes „sehr gut“.

Ein Impfplan existiert bisher nicht, ob etwa Kinder ebenfalls in Impfzentren oder doch beim Kinderarzt oder in Schulen geimpft werden sollten. Solche Überlegungen würden nicht geführt, da die Impfstrategie in den Kompetenzbereich des Gesundheitsministeriums falle, heißt es dazu aus dem Bildungsministerium. Für Ärztin Isabel De La Fuente Garcia steht fest: „Die vulnerablen Kinder müssen zuerst geimpft werden.“

Doch auch nach der Impfung immer breiterer Bevölkerungskreise wird das Sars-CoV-2-Virus so schnell nicht ausgerottet sein. „Das Virus wird bleiben. Je mehr Gelegenheit wir dem Virus geben, sich zu reproduzieren und zu mutieren, umso mehr Gelegenheit, dass impfresistente Varianten entstehen“, warnt Isabel De La Fuente Garcia. Schon deshalb sei es besser, die Bevölkerung großflächig zu impfen. „Vergessen Sie nicht: Auch wenn wir Sars-CoV-2 nicht loswerden, mildert eine Impfung den Krankheitsverlauf.“

Ines Kurschat
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