Das Filmfestival von Venedig gilt neben dem in Cannes als das prestigeträchtigste der Welt. Die Filme, die um den Goldenen Löwen konkurrieren, gelten weithin als Auftaktreihe für das Rennen um die Oscars. Auch die 81. Ausgabe des langjährigen Festivals brachte viele herausragende Werke der internationalen Filmkunst zusammen. Dabei fanden die sehr diversen Filme unterschwellig doch schnell zu ihren thematischen Konstanten: Immer wieder verhandelten die Beiträge im Hauptwettbewerb Machtfragen. Dabei ging es um Kontrolle und Dominanz. Sie stellten aber auch die großen Sinnfragen: nach dem Leben, der Liebe und dem Tod. Und sie erzählten von Bildern, die lügen.
Jury-Präsidentin Isabelle Huppert musste sich vergangenen Samstag entscheiden: Von den 21 Filmen, die dieses Jahr im Hauptwettbewerb standen, fallen vor allem die Auszeichnungen von Babygirl, The Brutalist und The Room Next Door auf.
Besonders die Schauspielleistung von Nicole Kidman in Babygirl konnte die Jury überzeugen. Die niederländische Regisseurin Halina Reijn erzählt in diesem Film von der Beziehung zwischen Romy, der erfolgreichen CEO eines Unternehmens, das sich auf Robotisierung und Automatisierung – ein zentrales Thema des Films – spezialisiert hat, und dem deutlich jüngeren Praktikanten Samuel. Rein oberflächlich betrachtet steht Babygirl irgendwo an der Schnittstelle zwischen Fifthy Shades of Grey (2015) und Tár (2022): Als ein Film, der ebenso die Vorstadt-Fantasie dekonstruiert, wie er von unbefriedigter weiblicher Lust und dem Machtgefälle in sozialen Beziehungen erzählt, im Privaten wie auch am Arbeitsplatz. Geben die Bilder familiären Glücks im trauten Heim sich als überaus spießig und allzu illusorisch zu erkennen, nimmt Halina Reijn die Machtverhältnisse am Arbeitsplatz umso klarsichtiger in den Fokus: Macht existiert nie allzu lang im Vakuum. Ist sie erst einmal destabilisiert oder verschiebt sie sich, werden die entstehenden Leerräume gleich wieder gefüllt. Am Ende gewinnen nicht die, die sich zu etwas Schlechtem gut verhalten, sondern die, die ihre Chancen zu nutzen wissen.
Nicole Kidman ist dabei in einer ihrer besten Rollen zu sehen: Ihrem Hollywood-Schauspielyp entsprechend gecastet, ist sie in Babygirl wenig einfühlsam, spielt unterkühlt und aus der Distanz. Die selbstironischen Verweise auf Nicole Kidmans Eingriffe gegen den Alterungsprozess ihres Körpers, die in der Boulevardpresse überaus rege diskutiert werden, führt Babygirl spielerisch und selbstironisch mit. Der Film ist eine Mischform aus verschiedenen Genres, die von der Suburbia-Illusion erzählt; es sind klischierte Bilder, die klischiertes Denken ausstellen.
Über den Status der Bilder denkt auch Pablo Larraín in Maria nach, dem Film um die berühmte griechische Opernsängerin Maria Callas, die kurz vor ihrem Tod Ende der Siebziger noch einmal an ihre frühere Karriere anknüpfen will. Gerade die Bezüge zwischen dem Rollenbild der Hauptdarstellerin Angelina Jolie und der Figur der Callas als eine Frau im Kreuzfeuer der Boulevardpresse sind evident. Es ist dies ein ebenso klarer Bezug zwischen Schauspielerin und Figur, wie Nicole Kidman ihn selbstironisch in Babygirl setzt. Dezidiert und konsequent aus der Frauenperspektive geschildert, ist Maria ein neuer, dekonstruktivistischer Blick auf das Biopic und nach Jackie (2016) und Spencer (2021) der Abschluss von Larraíns großen Frauenporträts.
Seiner Diva, der Callas, gönnt Larraín hier jedoch keine Momente des Aufatmens, des wahren Freiheitsgefühls. Vielmehr setzt er auf eine metareflexive Ebene: Um ihr Comeback vorzubereiten, will Maria Callas einem Reporterteam ein längeres Interview geben. Das Team indes existiert gar nicht; es ist eine Wahnvorstellung, und ob sie durch die Tablettensucht der Callas hervorgerufen wird oder aus dem unendlichen Sehnsuchtsgefühl nach neuem Ruhm, wird nie ganz klar. Die Aufnahmen, die der Film zeigt, sind überaus trügerisch – der Schluss, den Larraín nahelegt, indes nicht: Bildern ist nicht zu trauen, auch den Filmbildern Larraíns nicht. Der Callas ist nicht beizukommen, so sehr geht eine Idee von „tatsächlicher Wahrheit“ hinter den Ebenen aus dem Bild in der Öffentlichkeit, der Privatperson und dem Mythos verloren. Angelina Jolie kann sich mit Maria ein Stück weit von ihrem Rollenimage als Männerfantasie lösen – was eine Befreiung zumindest für die Schauspielerin, wenn schon keine für die Figur der Callas ist.
Der amerikanische Regisseur Brady Corbet geht in seinem selbstrefexiven Ansatz noch deutlich weiter. Maria Callas kennt man. Die Hauptfigur in The Brutalist, dem neuen, dritten Spielfilm des 34-jährigen Regisseurs, mag einem gänzlich unbekannt vorkommen. In The Brutalist sehen wir Adrien Brody als aufstrebenden Architekten Lázlo Tóth, ein ungarischer Jude, der den Holocaust überlebt hat. 1947 reist er in die USA ein und soll zu einem der bedeutendsten Vertreter der Nachkriegsarchitektur des Brutalismus werden. So, wie Corbet in seinen beiden ersten Werken The Childhood of a Leader (2015) und Vox Lux (2018) zwei sehr unterschiedliche Aufsteigergeschichten erzählte, so verfolgt er dieses Narrativ in The Brutalist weiter: Lázlo Tóth gerät schnell in die Fänge des einflussreichen Unternehmers Van Buren (Guy Pearce), der ihm den großen Ruhm verspricht. Tóth wird trotz mehreren Rückschlägen und neu zu durchlebenden Traumata den American Dream doch noch finden. Seine Kunst, wenngleich nie fertiggestellt, wird zur Anerkennung finden.
The Brutalist gibt sich zunächst als breitflächiges Biopic zu erkennen, der als große Americana angelegt ist. Wenn man aber dem Namen Lázlo Tóth in Bezug auf die Stilrichtung des Brutalismus kaum etwas abgewinnen kann, ja noch nie von ihm gehört hat, dann deshalb, weil es ihn gar nicht gibt. Tóths Figur ist reine Fiktion, die Corbet mit viel Mühe sehr detailreich aufleben lässt: in der Ausstattung, den Kostümen, den Dekors und einem vortrefflichen Adrien Brody, dessen Schauspielbild aus The Pianist (2002) von Roman Polanski freilich überaus bedeutsam ist. The Brutalist ist im Gewand des Biopic eine Illusion über den Illusionscharakter des Kinos.
The Brutalist wurde bereits vor dem Festival als der große Favorit für den Goldenen Löwen für den besten Film diskutiert. Nicht zuletzt, weil Corbet mit seinen beiden vorigen Filmen zu so etwas wie einem Ziehkind der Filmfestspiele Venedig avanciert war. Er gilt vielen als der europäische Auteur, der in Amerika Filme macht, oder noch als der Amerikaner, der sehr europäische Filme über Amerika macht. The Brutalist behauptet sich so sehr auf seinen Wahrheitsgehalt, dass man ihm ganz verfallen will. Auch das ist Kino. Der Regiepreis ist für Corbet eine Ausgangsposition, die eine große Karriere in Aussicht stellt.
Die große Überraschung bei der Preisverleitung am Samstagabend war jeoch Pedro Almodóvars The Room Next Door. Julianne Moore und Tilda Swinton spielen darin zwei Freundinnen, die sich mit der Frage nach dem selbstbestimmten Sterben auseinandersetzen müssen. Basierend auf der Romanvorlage der US-Amerikanerin Sigrid Nunez Are You Okay? aus dem Jahr 2022 entwickelt Almodóvar ein Duell zweier Schauspielgrößen, die über die großen Sinnfragen des Lebens nachdenken, denn das Freundschaftsverhältnis von Ingrid (Moore) und Martha (Swinton) wird auf die Probe gestellt: Martha ist krebskrank und will selbstbestimmt in den Tod gehen. Die sehr lebensfrohe Ingrid will diesen Entschluss nicht wahrhaben. The Room Next Door ist klarer ein Alterswerk, in dem Almodóvar mit sehr viel Feingefühl den Themenkomplexen seines bisherigen Werkes nachspürt – ohne Dramatik, ohne tränenreiche Wendepunkte, ganz kammerspielartig auf die Präsenz seiner zwei Hauptdarstellerinnen fokussiert. Mehr braucht er nicht, um großes Gefühlskino, im noblen Sinne des Wortes, freizusetzen.