Skizzen der Güte

d'Lëtzebuerger Land du 12.07.2024

Mit dem Begriff der „Greek Weird Wave“ ist ein Korpus an Filmen gemeint, die in einem ganz allgemeinen Sinne darüber nachdenken, wie Machtsysteme Gefüge von Menschen und die Körper von Individuen verwalten. Ausgangspunkt für diese Erneuerungsströmung in der filmischen Ausdrucksweise war zweifelsohne die griechische Finanzkrise: Die griechische Bevölkerung erlebte eine kollektive Depression, das Einkommen sank drastisch, die Arbeitslosigkeit stieg an. Kein Aspekt des gesellschaftlichen Lebens blieb von den schlechten finanziellen Entwicklungen verschont, die die Bevölkerung in Bezug auf die Zukunft des Landes innerhalb der Europäischen Union in Ungewissheit ließ. Das Kino war in der Folge eine der ersten Kunstformen, die auf die durch die anhaltende Krise verursachten Probleme reagierte und sie ansprach, indem es sich in einer Reihe von Filmen, die von der internationalen Kritik als „seltsam“ bezeichnet wurden, seltsamen – für manche sogar extremen – Erzählweisen und stilistischen Entscheidungen zuwandte. Obwohl es eine beachtliche Anzahl an Filmkünstlern hervorgebracht hat –Panos H. Koutras oder noch Yannis Economides – hat nur ein Regisseur heute einen internationalen Bekanntheitsgrad erlangt: Yorgos Lanthimos. Sein erfolgreicher Spielfilm Dogtooth (2009) gilt vielen als Startschuss der „Greek Weird Wave“, die auch Lanthimos international bekannt machte.

Die menschlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die Machtfragen, die oftmals an ein Patriarchat geknüpft sind, interessieren Lanthimos bis zu Kinds of Kindness. Betrachtet man Lanthimos’ Karriere aber in dieser Hinsicht, wird auffällig, wie sehr er sich von dem minimalistischen Setting und der verstörenden Gesellschaftskritik innerhalb einer universellen Anklage des Patriarchats und der ungesunden Erziehungspraktiken entfernt hat. Lanthimos’ Filme sind wichtige zeitgenössische Werke, allerdings hätte die Würdigung, die er mit Poor Things – nach dem Roman von Alasdair Gray – erhielt, schon viel früher einsetzen müssen. Eine weitere kontextuelle Begebenheit drängt sich auf: Die festen Themenbausteine aus Machtstrukturen, Abhängigkeit und Kontrollwahn, die er seit den Anfängen seiner Regiekarriere verfolgt, hat er nicht aufgegeben: Er passt sie vielmehr an eine starbesetzte, weniger sperrige Strenge an, die er mit Filmen wie Dogtooth oder Killing of a Sacred Deer (2017) wirkungsmächtig in die Gegenwart gesetzt hat. Nun sind es vielleicht die Zeitumstände, die ihn von einer immer größer werdenden Gefolgschaft profitieren lassen. Spätestens mit Poor Things war eine Wende markiert, hat der Regisseur doch das Register gewechselt: Es dominiert nicht mehr der Modus der griechischen Tragödie, sondern einer der satirischen, schwarzhumorigen Komödie. Dahinter steht auch eine Tendenz der mainstreamtauglichen Amerikanisierung seiner Erzählstoffe, die sich im Zuge eines post-me-too-Hollywoods vermarkten lassen: Aus der Ernsthaftigkeit der griechischen Tragödie hat sich Lanthimos in ein Feld der absurd schwarzhumorigen Komödien begeben, die versuchen, möglichst viele heute relevante gesellschaftliche Problemfelder zu betrachten – einen Gestus der pädagogischen Zurschaustellung der schlechtesten aller schlechten Welten bedienend.

Kinds of Kindness macht da keine Ausnahme: Als Triptychon angelegt, vereint sein neues Werk drei einzelne Geschichten in einem Film. Obwohl sie nicht als Fortsetzungen fungieren, treten aber dieselben Schauspieler in unterschiedlichen Rollen in den Filmen auf. Es geht um sehr bizarre Szenarien, in denen Menschen mit Blick auf einen Themenkomplex aus Liebe, Partnerschaft und Sexualität, Macht, Kontrolle und freiem Willen untersucht werden. In der ersten Geschichte lässt sich ein Mann (Jesse Plemons) sein Leben von seinem Chef (Willem Dafoe) diktieren. In der zweiten Episode glaubt ein Polizist (Plemons), dass seine Frau (Emma Stone) durch eine Doppelgängerin ersetzt wurde. Und im dritten Teil kämpft eine Frau (Emma Stone) darum, nicht aus einem Sex-Kult verstoßen zu werden. Es dürfte mit diesen drei Kurzfassungen bereits ersichtlich werden, dass Lanthimos seiner kreativen Ader freien Lauf lässt, das Überbordende und Mäandernde seiner Erzählfreude bestimmt nun auch das Erscheinungsbild dieses Films. Dabei gibt zunächst die Stimme von Annie Lennox aus Sweat Dreams von Eurythmics den Ton vor: „Some of them want to use you / Some of them want to get used by you / Some of them want to abuse you / Some of them want to be abused”.

Es geht in Kinds of Kindness – wie der Song vermittelt – besonders um Abhängigkeitsverhältnisse, die je nach Gewichtung und Zuspitzung zu dysfunktionalen Beziehungen aus obszönen und perversen Trieben führen, denen auch die Aufopferungsgeste innewohnt. Kinds of Kindness zeigt, wie viel Abhängigkeit in der Liebe steckt, sogar die Gewalt ist als Ausdruck der Güte zu verstehen. Es sind auch drei verschiedene Arten emotionaler Manipulation, die da gezeigt werden, jeweils als Ausdruck von Güte, von Liebe dem anderen gegenüber und als Einforderung von Liebe von dem anderen. Dazu führt Lanthimos weitere Schlagwörter an, die er zitathaft anprangert, ohne dabei eine ernsthafte Eindringlichkeit der Aussage zu erzeugen: toxische Männlichkeit, gesunde Ernährungsweisen, Körperbilder, Sektenbildung und starre Glaubenssysteme. Es sind drei surreale Welten, die zu diffusen politischen Aussagen einladen wollen. Es ist gerade dieses Abrufen einer Vielzahl von Elementen, die die Einzelfilme derart ausufern lässt. Die Bezüge zwischen den Filmen müssen immer wieder hergestellt werden, Einzelepisoden wertet man untereinander, muss sie immer wieder neu anordnen und am Ende ist die Frage durchaus offen, wie sich das Ganze sinnvoll zusammenfügt? Hält man die „weirdness“ von Lanthimos’ Schaffen hoch, so scheint diese Frage mitunter ohne Belang. Man sollte dann aber auch die Irritation eines großen Kunstwerks nicht verwechseln mit Konfusion. Es lässt sich sagen, dass die Einzelfilme aus Kinds of Kindness als Versuchsanordnungen funktionieren, die den dunklen Trieben und gezügelten Begierden nachspüren, ohne dass jemals eine wirkliche Freiheit gewonnen wird. So sehr da aber eine fehlende Freiheit geschildert wird, so sehr bestätigt der Film sie in Bezug auf Lanthimos’ Kreativität. Keine Grenzen, keine Einschnitte – Lanthimos kann heute nicht nur über größere Budgets verfügen, er scheint auch nahezu allumfassende künstlerische Freiheit zu genießen. Mithin darf und kann alles mit seinem neuen Film assoziiert werden. Besinnt man sich auf das Erstlingswerk des Griechen, Kinetta (2005), zurück, in dem er das Schicksal eines Zimmermädchens an einem trostlosen griechischen Ferienort als unmittelbaren Ausdruck der griechischen Sozialmisere infolge der Wirtschaftskrise schilderte, so kann man mit Kinds of Kindness nun den zurückgelegten Karriereweg messen. Seine ersten Filme waren kleine Projekte, die absurd waren, die verstörten und aufwühlten. Diesen Filmen lag eine Ordnung zugrunde, die zwar mitunter äußerst rätselhaft war, sich aber nachvollziehbar aufschlüsseln ließ.

Die Radikalität und Konzentration von Lanthimos’ früheren Werken, die diese Ordnung maßgeblich stifteten, sind hinter dem Erzählkonvolut, den Kinds of Kindness ausbildet, verschwunden. Alles ist da erzählerischer Geistesblitz, skurriler Einfall und ja: Sketch. Es ist gerade das Skizzenhafte, das Entwurfsartige dieses Films, – der entschieden kein eigenständiger Film ist – das eine intelligible Rekonstruktion erschwert, ja beinahe unmöglich macht. Kinds of Kindness verliert sich nahezu in einer Überbetonung der weirdness, hinter dem das „Griechische“ nur noch durch die Nationalität des Regisseurs gestiftet wird.

Marc Trappendreher
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