Syrien

Amerikaner gehen, Türken kommen

d'Lëtzebuerger Land vom 04.01.2019

Wenige Tage vor Weihnachten, am 19. Dezember, kündigte US-Präsident Donald Trump den Rückzug des kleinen US-Militärkontingents in Syrien an. Mit seiner unerwarteten Initiative erschütterte Trump nicht nur die US-Hauptstadt, sondern auch den Mittleren Osten. Denn die US-Truppen in Syrien sind mit den örtlichen Kurden verbündet. Daher ergeben sich berechtigte Fragen zur Zukunft der Kurden. Wichtiger Akteur in der Kurdenfrage ist die Türkei. Deshalb wird ebenso laut gefragt: Was macht die dortige Regierung?

Diese Frage ist vor allem für Europa wichtig. Denn mit ihrer tiefgehenden wirtschaftlichen Verflechtung mit Europa, mit Millionen von türkischen Staatsbürgern, die seit Jahrzehnten mehr oder weniger integriert in europäischen Ländern leben, und mit ihrer Rolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur ist die Türkei schon lange ein kaum trennbarer Teil des alten Kontinents.

So einfach es ist, die Bedeutung des Landes am südöstlichen Rand Europas zu erklären, desto schwieriger ist es, die Frage zu beantworten, wie sich das Land außenpolitisch entwickeln wird. Denn hier spielen viele Faktoren mit. Die türkische Innenpolitik ist dabei nur am Rande wichtig. Mehr Gewicht hat der enorme Migrationsdruck Richtung Europa, der durch den Bürgerkrieg in Syrien entstanden ist und weiter anhält. Vor allem aber sind es die globalen und regionalen geo-strategischen Justierungen, die das Verhalten der Türkei bestimmen, in dem sie dem Land zum Teil ihre Grenzen zeigen und zum Teil mehr Bewegungsraum gewähren. Die richtige Frage lautet daher: Welchen Handlungsspielraum hat die türkische Regierung überhaupt?

Seit der Rückzugserklärung Trumps rollen türkische Panzer an der türkisch-syrischen Grenze entlang hin und her. Artillerie wird in Position gebracht. Kommandoeinheiten der türkischen Armee bereiten sich auf einen Angriff auf kurdischen Stellungen in Nordsyrien vor. Das alles wird begleitet von verbal aggressiven Auftritten nicht nur des autokratischen Führers in Ankara, dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, sondern von weiteren türkischen Politikern, von denen keiner im Ausland wirklich Notiz nimmt. Das martialische Auftreten hängt mit dem Wahlkampf zusammen: Am 31. März werden alle Bürgermeister des Landes neu gewählt.

Dadurch wird die militärische Vorbereitung nicht ungefährlicher – vor allem für die syrischen Kurden, die seit 2011 nicht nur den syrischen Bürgerkrieg aus ihrem Territorium fernhielten, sondern auch die Angriffe der brutalen Schlächter von IS abwehrten und sie schließlich aus dem Nordosten Syriens größtenteils vertrieben. Denn Ankara betrachtet die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD), die in Nordsyrien herrscht, als eine Terrororganisation.

Die PYD ist nicht nur Ankara ein Dorn im Auge. Auch vielen westlichen Beobachtern gefällt nicht, was die PYD in den von Kurden besiedelten Gebieten macht. Sie ist links-sozialistisch und versucht in dem von ihr kontrollierten Gebiet eine Art Basisdemokratie einzurichten. Dass die dortigen Kurden seit Jahren in der Hölle des auseinanderbrechenden Nahen Ostens überleben, verdanken sie vor allem ihrer klugen Bündnispolitik: Die PYD hat nicht nur die USA zum Verbündeten, sondern koaliert mit den größten arabischen Stämmen in den unsäglichen Wüsten Ostsyriens. Sie hält gute Kontakte sowohl zu Israel, als auch zu Russland und den arabischen Staatenblock um Saudi-Arabien. Die Türkei möchte die PYD nun ein für allemal erledigen, weil sie ein erfolgreiches Beispiel für die eigenen Kurden zu werden droht.

Allerdings kann Ankara einen solchen Schritt nicht machen, ohne die regionalen und globalen Bedingungen zu berücksichtigen. Diese haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend als unberechenbar erwiesen. Das zwingt nicht zuletzt die türkischen Machthaber oft zu spontanen Entscheidungen. Als 2011 der Bürgerkrieg im benachbarten Syrien ausbrach, mischte die Türkei kräftig mit. Die Rechnung in Ankara war, grob zusammengefasst, dass der Westen militärisch eingreifen und dann dem Nato-Verbündeten zumindest die politische Kontrolle in der Region überlassen würde. Diese irrige Annahme kommt von der falschen aber festen Überzeugung im Nahen Osten, dem Westen sei lediglich die Kontrolle des Erdöls wichtig.

Durch die vielen dramatischen Wendungen der Schlacht um die syrische Wüste verlor Ankara zunächst durch die russische Einmischung die militärische Auseinandersetzung, orientierte sich dann neu, durch ihre Teilnahme am russisch initiierten Astana-Prozess zur Befriedung Syriens und erarbeitete sich schließlich einen neuen Platz am Tisch, wenn auch mit stark revidierten Ambitionen. Heute verfolgt Ankara in Syrien hauptsächlich drei Ziele: die militärische Beherrschung Nordsyriens, eine politische Führung unter ihrer Kontrolle im gleichen Gebiet und eine möglichst breite Beteiligung der Muslimbrüder an der zukünftigen politischen Architektur Syriens. Die Träume der türkischen Herrscher, ihr Land könne sich in diesem Chaos von globalen Kräften loslösen und selbst zum „Global Player“ werden, haben sich vielleicht (noch) nicht verwirklicht. Trotzdem sind sie weit gekommen. Die kurdische Herrschaft in Nordsyrien geht wohl bald zu Ende. Denn die PYD ist nun gezwungen, sich entweder mit dem syrischen Regime zu einigen und ihm die Macht zurückübertragen oder sie wird vernichtet durch einen türkischen Militäreinsatz – oder vielleicht beides.

Die USA machen mit ihrem Rückzugserklärung deutlich, dass sie mit diesen Lösungen leben können. Russland und sein Protegé Baschar Assad sind auch einverstanden, weil sie sehen, dass dadurch auch ihr Einfluss größer wird. Was Deutschland und Frankreich während des Syrien-Gipfels in Istanbul mit den Türken und Russen vereinbarten, ist bis heute nicht bekannt. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bereits während ihres Besuches in der Türkei in November 2015 einem türkisch-besetzten Nordsyrien grünes Licht gegeben. Dass alle die Einheit Syriens betonen, kann als ein starkes Zeichen für das Ende der kurdischen Träume gesehen werden.

Wird also die Türkei am Ende des Spiels doch als Sieger aus dem Feld gehen? Das ist sehr fraglich. Denn die regionale Dynamik entwickelte sich in den vergangenen Jahren gegen Ankara. Die meisten arabischen Staaten schufen eine Allianz gegen sie und ihren indirekten Bündnispartner Iran. Außerdem führte das Gedränge zwischen Russland, USA und der EU – das weiterhin einflussreiche Großbritannien nicht zu vergessen – auf der Weltbühne, unter anderem auch im Nahen Osten, längst nicht zu einem neuen Gleichgewicht. Das türkische Regime wird also weiterhin spontan handeln und die Risse zwischen verschiedenen Blöcken ausnutzen müssen.

Cem Sey
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