An diesem Montag ist die Erwartung im ausverkauften Kammersaal der Philharmonie groß. Das Abschlusskonzert der Welttournee des Gewinners des 18. Internationalen Chopin Klavierwettbewerbs, Bruce Xiaoyu Liu, steht in der Reihe „Récital de piano” an. Der 1997 in Paris geborene Kanadier mit chinesischen Wurzeln hatte die Jurymitglieder bereits im Oktober 2021 mehrfach von sich überzeugen können. Liu hat einen bemerkenswerten Weg hinter sich. So gewann er etliche internationale Klavierwettbewerbe, etwa den Grand Prize der Standard Life Competition des Orchestre Symphonique de Montréal, und das im Alter von 15 Jahren, und ging in China und Nordamerika auf Tournee. Bruce Liu hat am Conservatoire de Montréal bei Richard Raymond und an der Université de Montréal bei Đăng Thái Son – dem Gewinner des 10. Internationalen Chopin Klavierwettbewerbs 1980 – studiert. Die „International Chopin Piano Competition”, die 1927 gegründet wurde, findet seit 1955 alle fünf Jahre statt. An der 18. Ausgabe, die aufgrund der Pandemie um ein Jahr verschoben werden musste, nahmen 87 Pianisten aus 18 Ländern teil. Der Gewinner tourte durch Polen, Japan, Israel, Korea, Belgien, Brasilien, und in Vancouver, in Lius Heimatland Canada, bevor das Finale in Luxemburg stattfinden sollte.
Das Programm des Abends spiegelt die Einmaligkeit des Chopin Repertoires und seiner vielfältigen Einflüsse wider: Von Belcanto über traditionelle polnische Musik hin zum kulturellen Leben Frankreichs, der Wahlheimat des Romantikers. Bereits bei der 1835 geschriebenen Nocturne N° 27 op. 27 merkt man, wie beispiellos Chopins Musik, das Pianoforte und die Interpretation Bruce Lius miteinander verschmelzen. Die Nocturne wurde zwar von John Field erfunden, doch hat Chopin diese fantastische Gattung maßgeblich geprägt. Mit einer Sensibilität für Zwischentöne und Rhythmus, über die Tasten des Fazioli gleitend, beweist Liu ein tiefes Verständnis der Materie und bietet dem Publikum einen aktuellen Chopin: ohne Pathos, aber mit Gefühl und Intention. Liu war einer der nur acht Wettbewerbsteilnehmer, die diese noch sehr junge, 1981 von Paolo Fazioli gegründete Klaviermarke als ihren Mitstreiter wählten.
Das zweite Musikstück des Abends, Rondo à la Mazur op. 5, schrieb Chopin bereits mit 18 Jahren, als er noch in Warschau lebte. Der Einfluss der polnischen Tänze ist hier noch deutlich zu erkennen, auch wenn dieser Einfluss bei Chopin immer reininterpretiert und niemals zitiert wird. Hier stellt Liu, mal die Tasten streichelnd, mal regelrecht über sie fliegend, seine Virtuosität und Geläufigkeit unter Beweis. Mit Freude und Verstàndnis der Musik spielt er mit seinem Instrument und unterstreicht dabei auf seine ganz eigene Art und Weise die Modernität und Innovation Chopins. Das Konzert wird mit zwei der vier zwischen 1836 und 1843 komponierten Balladen fortgeführt: Nummer 2 und Nummer 3. Die Gattung der Ballade wurde eigenständig von Chopin in die Musikwelt eingeführt. Er war es, der, inspiriert von der Erzählweise in der Literatur, die Technik der Balladenerzählung musikalisch nachempfand. Mit einer treffenden Zurückhaltung und genau dosierten Intensität führt Liu die Erzählung nun fort.
Von den drei Sonaten, die Chopin schrieb, und mit denen er entscheidend zu der Entwicklung des Genres beitrug, wurde die zweite von seinen Zeitgenossen als neuartig und gar übermütig empfunden. Liu unterstreicht dies in seinem Spiel mit seinem meisterhaften Einsatz von Pausen und seiner Präzision bei bestimmten Übergängen. Die Fortschrittlichkeit des Komponisten wird durch Lius unermüdliche Dringlichkeit betont – und der Pianist schwört somit auch die schaurige Aktualität des weltberühmten Trauermarsches herauf.
Bewegt, präzise und mit einer ungeheuren Leichtigkeit schließt Bruce Liu das Abendprogramm mit einer Grande Polonaise brillante précédée d’un andante spianato op. 22 ab. Diese scheint uns in eine andere Zeit zu versetzen und lässt die Zuschauer endgültig sprachlos zurück. Unter stehendem Beifall, und nach drei Zugaben – die dritte davon, augenzwinkernd, eine Etüde – verlässt Liu nach seinem großartigen Finale die Bühne. Für das Publikum war dieses Konzert ein einzigartiges Erlebnis: eine zeitgenössische Interpretation einer zeitlosen Musik.