Rauchen war mal eine Pforte zur offiziösen Politik

Die politische Intimität der Zigarette

d'Lëtzebuerger Land vom 24.07.2020

„Sie haben keine Zigarette geraucht, rauchen Sie nicht mehr?“, fragt RTL-Moderator Roy Grotz Jean-Claude Juncker nach einer mehrminütigen Nachrichten-Unterbrechung im „Background am Gespréich“ am 9. Mai. Juncker fasst sich kurz: „Nein.“

„Gar nicht mehr?“, hakt ein überraschter Grotz nach. „Nein“, sagt Juncker, ohne präziser zu werden. „Sie hatten auf zehn Zigaretten runtergeschaltet, jetzt rauchen Sie gar nicht mehr?“, bleibt Roy Grotz dran. „Von zehn auf null ist ein steiniger Weg, aber es gibt ihn“, hält Juncker sich weiterhin bedeckt. Wie es denn jetzt mit seiner Nervosität sei, fragt Grotz. Juncker behauptet, als Nichtraucher sei er weniger nervös. „Sie geben die Botschaft also weiter: Hört auf damit!“, versucht Grotz das Zigarettenthema abzuschließen. Da kontert Juncker doch: „Ech bekëmmere mech net ëm aner Leit hir Hygiènesproblemer, ech hu genuch mat mengen ze dinn gehat.“

Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass Juncker im letzten Jahrzehnt nicht besonders stolz auf seinen Zigarettenkonsum war. So schrieb ein Zeit-Journalist 2012: „Jean-Claude Juncker sitzt an einem Besprechungstisch in der Vertretung des Großherzogtums Luxemburg. Vor ihm liegt griffbereit ein schwarzes Lederetui mit Zigaretten, daneben ein Aschenbecher, eine Kaffeetasse, Unterlagen. Wie viele Zigaretten es am Ende des Gesprächs gewesen sein werden, darf nicht verraten werden.“ 2014, so die Süddeutsche Zeitung, sei ein Tabakersatz neben Juncker aufgetaucht: „Auf dem Tisch steht Kamillentee, in der Anzugjacke steckt die E-Zigarette, die Papierstapel sind überschaubar.“

Ein Blick auf die Zigarettensoziologie des vorigen Jahrhunderts zeigt: Junckers persönlicher Entschluss ist in einen größeren Zeitgeist eingebettet. Anders als noch vor 50 Jahren ist heute den Mächtigen die Lust am Rauchen vergangen. Trump, Bolsonaro, Putin: Sie alle wollen zwar ein konservatives Männlichkeitsbild verkörpern. Wie Winston Churchill rumpaffend regieren oder wie Ronald Reagan für Chesterfield werben wollen sie allerdings nicht.

Anfang des 20. Jahrhundert waren die Verhältnisse noch klar: Wer etwas auf sich hielt, rauchte. Die Politik-Elite rauchte, Kaiser und Könige rauchten, Künstler und Kulturschaffende rauchten. Tabakrauchen war ein Statussymbol, es verkörperte Weltoffenheit und entspannte Heiterkeit.

Tabak wird in Europa bereits seit dem 15. Jahrhundert konsumiert. Die Kolonialmächte führten das zunächst als außergewöhnlich betrachtete Genussmittel aus Südamerika ein. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts wird Rauchen bequemer: Es wird in Papier gewickelter Tabak angeboten; die ersten Proto-Zigaretten erobern die Salons, Büros, Kneipen und Fabrikhallen. Vor allem Frauen sind an der komfortablen Zigarette interessiert – anders als Männer, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die klumpigen Zigarren und Pfeifen vorziehen.

Bedingt durch die Weltkriege war der Siegeszug der US-Zigaretten kaum aufzuhalten. Wie der Kulturwissenschaftler Dirk Schindelbeck recherchiert hat, gingen viele Männer als Nichtraucher in den Krieg und kamen als Raucher wieder raus, in Tagebüchern fand Schindelbeck Aussagen wie: „Der Krieg hat mich zum Rauchen verführt.“ Es sei eine der wenigen Ablenkungen im öden Alltag gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe, hält der Historiker Gerulf Hirt fest, der Marshall-Plan die Beliebtheit der amerikanischen Zigaretten befördert: Die USA weiteten ihre Tabakwirtschaft aus, indem sie den europäischen Markt per Marshall-Plan für Orienttabake sperrten und ihn mit amerikanischen Tabaken belieferten.

Zu dem Zeitpunkt hatte Luxemburg bereits seine eigene Tabakindustrie aufgebaut – Tabak war damit eine der wenigen Kolonialwaren, die hierzulande zur Entwicklung einer größeren Industrie führte, die noch heute besteht. Maßgeblich geprägt wurde sie von dem Ehepaar Jean-Pierre Heintz und Josephine van Landewyck, die Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst einen Tabakladen in der Hauptstadt eröffneten. Daraus wurde einige Jahre später eine Tabakfabrik, die es heute noch gibt. Aber bereits einige Dekaden vor der industriellen Produktion hatte sich ein Dutzend „Tubaaksspënnereien“ etabliert, die Tabakblätter zu Rollen „sponnen“ und anschließend fein zerrieben. Die größte Tabakspinnerei wurde von Jean-Pierre Pescatore betrieben (vgl. Romain Hilgert: Banken, Kaffi, Hädekanner. 1992).

Bei den Feierlichkeiten zum 150-jährigen Bestehen von Heintz van Landewyck im Sommer 1997 gab der erfahrene Raucher Jean-Claude Juncker eine Lobeshymne zum Besten, die bereits drei Wochen zuvor in einer Pressemappe vorlag. In seiner Rede appellierte der CSV-Premier an den bescheidenen und strebsamen Charakter luxemburgischer Unternehmen, wie er ihn in der Führungskultur von HvL feststellte (vgl. Peter Feist: „Zu Besuch bei Heintz im Maryland“. Gréngespoun, 4.7.1997).

Als Juncker 1954 geboren wurde, rauchten in Europa um die 50 Prozent aller Männer, vor allem auch die Gutgebildeten. Ein Jahr später wurde den Rauchern durch eine sichtbare Erneuerung die mögliche Schädlichkeit von Tabak signalisiert: 1955 kamen die ersten Filterzigaretten auf den Markt. Und dieser Filter suggeriert: In meinem Produkt ist etwas enthalten, das rausgefiltert werden sollte. Nicht gerade vertrauensfördernd. In den 1970ern lieferte die Zigarettenindustrie ein erneutes Eingeständnis: Sie lancierte die „leichte“ Zigarette.

Damals war Rauchen in öffentlichen und semi-privaten Räumen fast überall erlaubt: in Zügen, Restaurants und Kinos, in Lehrerzimmern, in Zeitungsredaktionen. Auch in der Abgeordnetenkammer wurde geraucht – zwar nicht in den Plenarversammlungen, aber an der Bar und in den Fraktionssitzungen. Eine blaue Dunstwolke machte sich in allen nicht-öffentlichen Sitzungen breit. Allerdings rauchte nicht unbedingt die Mehrheit der Politiker, aber immerhin konnten sie ihren Willen gegen den der Nichtraucher durchsetzen. Vor allem für den LSAP-Politiker Jean Gremling (1921-1996) wurde das Pfeifenrauchen zu einer Art Markenzeichen. Der LSAP und dem OGBL Nahestehende berichten, dass Rauchen vor allem im letzten Jahrhundert Teil der Identität der Arbeiterbewegung war. Auch heute wird in der älteren Generation der Gewerkschaftler gequalmt. An rauchende Politikerinnen hingegen erinnern Zeitzeugen sich nicht.

Wer es zu der Zeit genauer wissen wollte, konnte schon im Terry Report, einer Langzeitstudie, nachlesen, welche gesundheitlichen Auswirkungen das Rauchen hat. Doch auch ohne Studien, Filter und Light-Versionen konnte der Raucher der Schädlichkeit unmittelbar auf die Spur kommen: Dem (noch) nicht Süchtigen fällt sie als übelriechend auf und ruft gewöhnlich Abwehrreaktionen wie Husten und Übelkeit hervor.

Aber niemand wollte es so genau wissen. Auch Jean-Claude Juncker in seinen jungen Jahren nicht. Um Klasse, Intellektualität oder Arbeiterkampfgeist auszustrahlen, um rebellisch oder zumindest freigeistig zu wirken, blieb vielen das Rauchen weiterhin ein geeignetes Mittel. Bis Gesundheitsdebatten diese Attribute endgültig überschatten, sollten noch knapp 30 Jahre vergehen. Ende der 1990er gesteht die Zigarettenindustrie offiziell ein, dass ihr Tabak süchtig macht. Seitdem nehmen die Raucherzahlen ab; eine Mehrheit findet das selbstschädigende Verhalten nicht mehr attraktiv. Staat und EU-Vorgaben halfen diesem Trend, sich zu durchzusetzen, indem Rauchverbote beschlossen wurden: 2006 wurde der Glimmstängel in allen Restaurants, Schulen und öffentlichen Gebäuden verboten. Ausnahmen galten für Bars und Cafés, die keine Speisen servierten. Seit Januar 2014 sind diese Sonderregelungen weitestgehend eingestampft.

In Luxemburg führte bei diesem Zigaretten-Aus ausgerechnet ein Ex-Raucher von der LSAP Regie. Mars Di Bartolomeo setzte sich als Gesundheitsminister für strengere Auflagen ein, als die EU-Regelungen vorsahen; seitdem ist die Zigarette im Gastronomiegewerbe bis auf ein paar Aschenbescher im Außenbereich und speziell ausgestattete Raucherabteilungen passée. Der LSAP-Politiker ging sein Amt als Gesundheitsminister 2004 als Selbstexperiment an: Er wollte vorbildlich wirken und gab das Rauchen auf. Vielleicht wollte er sich zugleich ein Umfeld schaffen, in dem er nicht mehr in Versuchung geriet; ein Umfeld, in dem man nicht mehr so leicht zum Feuerzeug greifen darf.

Heute ist das Luxemburer Parlament nicht mehr in eine blaue Dunstwolke gehüllt. Dem Vernehmen nach raucht nur noch ein halbes Dutzend der Politiker vom Krautmaart. In der Regel trifft man auf Grüppchen von zwei bis drei Rauchern vor der Tür, vor allem Pim Knaff, Yves Cruchten, Marc Baum und David Wagner sind Jean-Claude Juncker noch nicht in die Abstinenz gefolgt. Frank Engel eiferte Pfeife rauchend in den 1990ern dem Habitus der großen Denker nach. Mittlerweile hat er sich mit der E-Zigarette angefreundet.

Nur noch ausnahmsweise wird gequalmt. Wenn Ernstes beschlossen, wenn ein Bund besiegelt werden muss, fern der Blicke der Öffentlichkeit: An dem Abend, als die blau-rot-grüne Koalition bei Lucien Lux zu Hause beschlossen wurde, verließen Xavier Bettel und Etienne Schneider das Wohnzimmer, um auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen. Rauchen in einer Zweierkonstellation hat etwas Intimes, Verbrüderndes. Man hilft sich gegenseitig, die Zigarette anzuzünden. Zigaretten schaffen Zeitfenster, Zigaretten helfen zu entspannen, und dann passierte es: Schneider bot Bettel den Führungsposten an, die DP sei der Wahlgewinner, er solle Premier werden, schreibt Christoph Bumb in Blau Rot Grün – Hinter den Kulissen eines Machtwechsels.

Wie oft fand Juncker sich in derartigen Raucherkonstellationen unverhofft wieder oder manövrierte sich über den Glimmstängel in sie hinein? Womöglich gelegentlich. Als er in seiner Jugend politisch sozialisiert wurde, war Rauchen geläufig. Als er hohe Ämter bezog, rauchte ein beträchtlicher Teil seiner Peer Group: Gerhard Schröder frönte als Bundeskanzler seinen Zigarren, in der gleichen Zeit war SPD-Generalsekretär Franz Müntefering Kettenraucher. Jacques Chirac war ein grand fumeur. Nicolas Sarkozy rauchte zwar kaum Zigaretten, bei Zigarren sagte er aber nicht Nein. Was Juncker heute „Hygieneprobleme“ nennt, war früher eine Pforte zur offiziösen Politik.

Stéphanie Majerus
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