Die kleine Zeitzeugin

Beim Malou

d'Lëtzebuerger Land du 02.06.2017

Den Clausener Berg hinunter, zu Fuß, zum Fluss, zu der Schenke am Fluss. Die Tür wird aufgestoßen, in der Erinnerung muss man sie fest aufstoßen, dann ist man mittendrin. Mitten in der Stube, mitten in den Rauchschwaden, Gesprächsfetzen flattern und knattern einer um die Ohren. Hinein, eintauchen in dieses impressionistische Gemälde, im Lauf des Abend wird es immer expressionistischer.

Hinter der Theke steht Malou, in unnachahmlicher Grandezza. Nach dem Verlauf einer angemessenen Frist wendet sie sich der Elblingbittstellerin zu, mit einer unnachahmlich präzisen, konzentrierten Kopfbewegung, kontrolliert, wie die einer indischen Tänzerin. Während sie genauso konzentriert einen Humpen abfüllt. Unter ihrem schwarzen, dichten Haar trifft die Bittstellerin aus schwarzen Augen ein kühler Blick, die Bittstellerin fragt sich, ob er abschätzig ist. Nicht einmal, denkt sie. Er verweist sie einfach auf ihren Platz. Sie nimmt Platz.

Sie nimmt Platz an einem Tisch, in der Erinnerung vermischt, verwischt sich die Szenerie, die Besetzung, die zum Teil jede Nacht hier Sitzung hält. Die Haupt- und Nebendarsteller_innen, die Thekensteher, die, die ganz spät noch reinhirschen auf ein Bier, und auf noch und noch eins. Die Lehrer, die die Welt gnadenlos verbessern, die Erzieher der Arbeiterklasse, die sich leider wieder gerade vor „Dalli Dalli“ ersatzbefriedigt, die mit den Bärten und Brillen, die mit den ganz langen Haaren, also dem Echtheits-Zertifikat, die Coolen von der Schule, die Hausfrauen auf der Suche nach dem, was es doch auch noch geben muss, die Künstler_innen, die Student_innen.

Sie landen alle bei Malou, wo alles so authentisch ist und so wahr und wie es eben war, die Holztische, die Wandfarbe, die authentische Toilette, aber auch mit Zeitgeist, mit Postern. Um den Altar stehen Herren, die sich benehmen, jedenfalls angesichts der Hoheit, die am Zapfhahn zelebriert und sie im Auge hat. Angesichts von Kleopatra wird Mann nicht anzüglich, Mann hofft darauf, zur Kenntnis genommen zu werden, eine kleine, vertrauliche Bemerkung im späteren Stadium. Irgendwann, nach vielen Prüfungen, vielleicht zum Kreis der auserwählten Adoranten zugelassen zu werden.

Smalltalk ist No-go, es geht hier immer ums Ganze, möglichst alles, Mao ist unter uns, Trotzki grübelt, wer ist jetzt konterrevolutionär, wer nur ein braver Reaktionär? Und wie toll ist doch nicht diese Initiative des Großen, dicken Vorsitzenden, alle Student_innen ein Jahr in die Schweineställe und auf die Felder zu schicken, wir nicken, Schluss mit der bürgerlichen Dekadenz! Luxemburgs Limpertsberg-Intelligenzija brainstormt, die großen Geister sprechen aus der Flasche, es wird tief geschürft, viel geschlürft. Aus dem Elblingliebling steigt der saure Elblinglieblinggeruch auf. Hin und wieder knutschen Aktivist_innen der totalen Befreiung, was Malou nicht mit einem Rausschmiss quittiert wie andere Caféchef_innen in der Stadt. Aber mit einem Blick, der über sie hinwegsieht, er macht sie zu Unsichtbaren.

Wie sie sich so zwischen den Tischen bewegt, mit exakt komponierten Bewegungen, erscheint sie der Novizin als Inbegriff der Weiblichkeit, dabei umgibt sie eine Aura der Unnahbarkeit. Der Ex-Novizin fallen jetzt lauter längst verbannte Wörter ein, Wörter wie rassig, sinnlich, Vollblutweib, ich bin eine Frau, ich darf das, denkt sich Ex-Novizin. Wenn es doch so war! Eine Ikone mit ironischem Blick, wie wird das Mädchen aus Clausen, die Grande Dame aus Clausen wohl ihre Oberstadtobermittelschichtsäufer_innen erkannt und durchschaut haben? Die Weltverbesserungsaspirantin, die vor allem gut im Elbling war?

Wie auch immer, für die, die erst Jahre später bei einer Zufallsbegegnung im Wartesaal eines Arztes die ersten Sätze mit ihr wechselte, bleibt sie eine Ikone. Sie tränkte die, denen dürstete, schenkte ihnen Schönheit, Anmut, Stil, den Nachteulen einen Hafen zum Spinnen und Saufen, und kehrte sie dann vor die Tür.

Für die, die fundamentalistisch zu Fuß den Berg runter gekommen waren, stand auch meist ein freundliches Auto vor der Tür. Wie im Märchen, wie im Kapitalismus.

Michèle Thoma
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