Zahlenspiele

Stadt der Wunder

d'Lëtzebuerger Land vom 25.11.2010

Heute loben wir die erstaunlichen Zahlenspiele der Politiker. In einem Pressegespräch verkündete der hauptstädtische Verkehrsschöffe Bausch: „Am Joer 2009 sinn 31,5 Millioune Leit an der Stad mam Bus gefuer.“ Da staunt der Laie und der Fachmann kratzt sich am Kopf. 31,5 Millionen Menschen? Könnte es sich um einen Versprecher des verehrten Herrn Schöffen handeln? Mitnichten. Wenn er „Leit“ sagt, möchte er, dass wir auch „Leit“ verstehen. Und wenn der Rechenkünstler zum großen Schlag ausholt, will er ganz sicher, dass wir vor Verwunderung halb betäubt auf die Knie fallen und nicht mehr lange nachfragen.

Ganz im rechnerischen Sinne von Herrn Bausch nehmen wir also vollends beeindruckt zur Kenntnis, dass in der Stadt Luxemburg die 645 Busse auf den 147 Kilometern Strecke von einer Menschenmenge gestürmt wurden, die unsere gesamte Landesbevölkerung um das sechzigfache übersteigt. Die städtischen Busse sind demnach eine Attraktion von Weltrang. Nichts scheint stärker im Trend zu liegen, als zu den „Leit“ zu gehören, die sich eine Fahrt mit dem hauptstädtischen Bus gönnen. Das ist ökologisch sehr wertvoll. Es fragt sich nur, wer überhaupt noch mit dem Auto fährt. Laut Herrn Bausch sitzen rein numerisch alle Luxemburger längst im Bus. Diese Rechenkunst sagt uns auch: Es kann gar keine Monsterstaus in der Stadt mehr geben, denn die Statistik belehrt uns, dass 31,5 Millionen „Leit“ ihre Blechkarossen längst verschrottet haben. Den Bussen gehört also künftig die Stadt. Sie rollen über ein wunderbar verkehrsfreies Straßennetz.

Herr Bausch ist jedenfalls ein mirakulöser Mathematiker. Seine berauschende Kapazität, mit Zahlen umzugehen, wird demnächst als „Bausch-Methode“ international Schule machen. Um den mathematischen Versagern, zu denen wir uns selber zählen, das dicke Brett vom Kopf zu reißen, möchten wir den Fall eines 300-Seelen-Dorfes irgendwo im Ösling schildern. In diesem Dorf fährt nur ein einziger Einwohner von 300 mit dem Bus. Kein Grund zur grünen Aufregung, wir werden schon noch nachweisen, dass in Wirklichkeit die gesamte Dorfgemeinschaft auf den Bus umgestiegen ist. Denn am Ende eines einzigen Tages hat sich der einsame Busbenutzer schon verdoppelt. Einmal Hinfahrt, einmal Rückfahrt, zwei „Leit“ im Bus, würde Herr Bausch folgern. Wenn unser Busbenutzer 150 Tage lang mit dem Bus gefahren ist, ist er logischer Weise schon zu 300. Großer Jubel: die gesamte Dorfbevölkerung fährt mit dem Bus! Die Öko-Revolution hat gegriffen! Grüne Politik ist unschlagbar!

Jetzt müsste der einsame Busbenutzer, der die Revolution ausgelöst hat, eigentlich kategorisch zu Hause bleiben. Denn wenn er weiterhin mit dem Bus fährt, zum Beispiel nochmals 100 Tage, übersteigt er die Dorfbevölkerung schon um 200 „Leit“. Das kann problematisch werden. Die Gemeindeverwaltung gerät unverhofft in die Bredouille. Wo kommen denn plötzlich die 200 Unbekannten her? Alles Schwarzfahrer, oder was? Oder gar illegal Zugewanderte? Die jetzt unseren Bus kapern und frech die Landschaft erkunden? Nimm doch mal Urlaub, Busbenutzer! Gönne dir 100 freie Tage! Damit unsere kommunale Busbenutzungsstatistik nicht auf einmal Rad schlägt!

Niemand sollte leichtfertig annehmen, Politiker wüssten nicht, was sie tun. Für ihre Popularität tun sie ganz einfach alles. Für ein paar zusätzliche Streicheleinheiten prostituieren sie sich von morgens bis abends, notfalls mit Hilfe des raffinierten Busbenutzerzahlenwerks. Herr Bausch weiß ja, dass er ein kleiner Häuptling in einer kleinen Provinzstadt ist. Und er weiß auch, wie er dieses Städtchen werbewirksam aufblähen kann zur gigantischen Metropole. Wenigstens er ist jetzt umgeben von 31,5 Millionen „Leit“, dem Busfahrtleitsystem sei Dank. Er darf sich als großer grüner Häuptling in einer Millionen-City fühlen. Das macht stark. Gewiss könnte er sogar freihändig einen ganzen Bus stemmen, wenn es der elektorale Bluff erfordert.

Neben den Busbenutzern gibt es ja noch die Fußgänger. Herr Bausch sollte sie nicht vernachlässigen. Auch sie treten millionenfach auf. Es kommt nur auf die Zählmethode an. Jeder Fußgänger hat (im Prinzip) zehn Zehen. All diese Zehen berühren beim Gehen die Chaussée. 31,5 Millionen Zehen beleben jährlich die Stadt. Multipliziert man dann auch noch mit der Anzahl der jährlichen Chausséeberührungen, sprengt die urbane Zehenstatistik jede Vorstellung. Astronomisch! Nicht mehr in lesbare Zahlen zu fassen!

Schon auf der Weltausstellung in Shanghai haben 70 Millionen Zehen den luxemburgischen Pavillon duerchquert. Mit magnetischer Wucht zieht unser Miniland neuerdings die unübersehbaren Menschenmassen an. Ganz zerknittert müssen wir zugeben, dass wir im Jahr 2009 kein einziges Mal mit dem städtischen Bus gefahren sind. Aber wenigstens sind wir einmal am hauptstädtischen Bahnhof in den Zug gestiegen. Millionen „Leit“ starrten uns aus den Abteilfenstern an. Die Bahn war nämlich gerade dabei, ihre Millionenkundschaft zu registrieren.

Guy Rewenig
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