Pensionsreserven

Das viele schöne Geld

d'Lëtzebuerger Land vom 25.09.2008

Als vor zwei Wochen der LCGB zur sozialpolitischen Rentrée eingeladen hatte, meinte Präsident Robert Weber, bei den laufenden Gesprä­chen in der Renten-Arbeitsgruppe zwischen Sozialpartnern und Sozialminister werde ein „politischer Eingriff“ ins Pensionssystem vorbereitet und „eine Beschneidung der Rentenansprüche“ geplant.

Wahrscheinlich war das eine Übertreibung am Vorabend der Mitte No­vember stattfindenden Sozialwahlen. Wenn Anfang nächsten Monats die Arbeitsgruppe wieder einmal zusammentritt, dann wird es dort erneut um jene „Stärken-Schwächen-Analyse“ des Systems gehen, die die Gruppe beschäftigt, seit sie sich im November 2007 zum ersten Mal traf. Selbst die Union des entreprises luxembourgeoises, die seinerzeit schärfste Kritikerin der Rententisch-Beschlüsse von 2001, findet, als „sicherlich richtigen ersten Schritt“ müsse es eine Bestandsaufnahme geben, sagt ihr Generalsekretär Pierre Bley. 

Und womöglich wird schon die Einigung darüber nicht ganz selbstverständlich sein: „Schwäche“ impliziert schließlich Handlungsbedarf; und während der LCGB diesen „kurzfristig“ nicht erkennt, bestritt René Pizzaferri, OGB-L-Vertreter in der Arbeitsgruppe, noch im Juli bei einer Pressekonferenz die Gültigkeit längerfristiger Prognosen über das Pensionsregime und spottete über die „Rentenmauer“, deren Auftreten Premier Jean-Claude Juncker 1997 für Anfang 2015 prophezeit hatte. 

So ist es viel wahrscheinlicher, dass vor Beginn des Parlamentswahlkampfs lediglich ein Bericht vorliegen wird, aber noch keine „propo­sitions pour assurer la viabilité à longue terme des régimes de pension“, wie es im Abschlussdokument der Tripartite vom 28. April 2006 über die Mission der Arbeitsgruppe heißt. Das Programm der nächsten Regierung wird zeigen, ob das genug der rentenpolitischen Vorarbeit gewesen sein wird.

Denn das Rentensystem könnte unter zweifachen Druck geraten. Der eine ist versicherungsmathematisch einigermaßen erfassbar und ließe sich etwa so beschreiben: Die letzten Jahre waren zwar volkswirtschaftlich sehr einträglich. Bei einem Rekord-Beschäftigungswachstum um 18 000 neue Arbeitsplätze allein im vergangenen Jahr wuchsen die Reserven der Pensionskassen um 820 Millionen Euro, und allein dieser Zuwachs lag um fast 25 Prozent über dem des Vorjahrs. Entsprechend verbesserte sich das arithmetische Verhältnis der Berufstätigen zu den Pensionsempfängern ein Stück weiter und war Ende 2007 so günstig wie nie. 

Es ist jedoch das längerfristige Wachstum, das die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) ihren aktuariellen Studien zugrunde legt. Je nachdem, wie dieses sich entwickelt, resümierte die letzte Studie dieser Art vom Jahr 2005, werden irgendwann zwischen 2034 und 2041 die derzeit noch hohen Rücklagen von weit über sieben Milliarden Euro aufgebraucht sein, wenn es vorher zu keiner Erhöhung der spektakulär niedrigen Beiträge oder einer Senkung der spektakulär hohen Pensionen kommt. Während gegenwärtig die steigende Beschäftigung vieler überwiegend junger Grenzpendler die Reserven wachsen lässt, wird allmählich die Zahl der im Ausland lebenden Pensionäre zunehmen, die eine volle Berufskarriere in Luxemburg nachweisen und damit eine volle Rente beanspruchen können. 2006 wurden 40 Prozent der Pensionen ins Ausland „exportiert“, aber das machte in Euro ausgedrückt nur knapp 19 Prozent vom Gesamtbetrag der gezahlten Pensionen aus. Laut IGSS könnten es in 20 Jahren 45 Prozent sein. 

Wie groß der Druck von der zweiten Seite her werden könnte, ist dagegen eine überwiegend politische Frage. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die mit Rücklagen prall gefüllten Pensionskassen schnell Begehrlichkeiten wecken. Wie im Oktober 2005, als Jean-Claude Juncker in seiner Erklärung über die politischen Prioritäten der Regierung angesichts eines defizitär gewordenen Zentralstaats daran erinnerte, dass die  Staatsausgaben zu 56 Prozent Sozialausgaben sind und die Überschüsse der Pensionskassen „zu einem großen Teil aus der Staatskasse kommen“. Wenn die Regierung derzeit schon besondere Mühe bei der Aufstellung des Haushaltsentwurfs 2009 hat, obwohl der sich noch stark auf Steuereinnahmen vor Ausbruch der internationalen Bankenkrise basieren kann, dann besteht Verschlimmerungspotenzial für den Haushalt 2010. Um 20 Prozent könnte die Besteuerungsbasis des Finanzsektors einbrechen, orakelte Zentralbankpräsident Yves Mersch am Dienstag gegenüber dem parlamentarischen Wirtschaftsausschuss. 

Nicht auszuschließen, dass die nächste Regierung tun könnte, was die aktuelle vor zwei, drei Jahren trotz aller Defizitpropaganda nicht wagte: Vorzurechnen, dass von den 24 Prozent Beitragsfinanzierung der Rentenversicherung je ein Drittel von den Versicherten, den Arbeitgebern und dem Staat bezahlt wird; fest­zustellen, dass 24 Prozent bei der derzeitigen Rückverteilungsprämie von 19,8 Prozent zu viel seien und die Pensionskassen etwa auch bei 21 Prozent Beitragsdeckung noch Überschüsse verzeichnen würden. Und den Beitragssatz zu ändern. Die aktuariellen Langfrist-Prognosen der IGSS müssten dann ganz neu berechnet werden, und nachdem die derzeitige Regierung es die ganze Legislaturperiode über tunlichst vermied, die Pensionen zu politisieren, wären diese dann wieder ein heißes politisches Thema.

Zumal auch ohne die derzeitige internationale Krise ein wachsender Druck auf die öffentlichen Finanzen durch europäische Harmonisierungsbeschlüsse programmiert ist, für den in der nächsten Legislaturperiode Antworten gefunden werden müssen: Die Akzisen- und Mehrwertsteuereinnahmen aus dem Tankstellengeschäft in Höhe von derzeit rund 1,5 Milliarden Euro werden sich bis 2016 deutlich verringern. Die Mehrwertsteuereinnahmen aus dem elektronischen Handel werden um ein paar hundert Millionen sinken, und wie der Finanzsektor beschaffen sein wird, falls in ein paar Jahren das Bankgeheimnis ausgehöhlt sein könnte, weiß noch niemand.

Dass die Rentenfrage unter diesen Vorzeichen kaum im bevorstehenden Wahlkampf thematisiert werden wird, aber bei der Bildung der nächsten Regierung zur Sprache kommen könnte, scheint Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) zu ahnen und verteidigt schon jetzt die Art, wie er den Rententisch II führt, der offiziell nicht so heißen darf. Dass die am Rententisch 2001 beschlossenen allgemeinen Rentenerhöhungen „vorübergehend die Rücklagenbildung verhinderten“, will er „mal klar und deutlich gesagt haben“. Und dass die Gespräche in der Arbeitsgruppe dazu beigetragen hätten, dass Regierung und Sozialpartner „endlich wieder auf Augenhöhe miteinander reden“. Als sei es in der Renten-Gruppe mehr noch als um die Zukunft der Pensionen um Vertrauensbildung nach dem Streit ums Einheitsstatut gegangen. Aber wahrscheinlich hatte Di Bartolomeo Recht, als er die Gruppe gut ein Jahr später einberief als eigentlich geplant war: Als die Verhandlungen zum Einheitsstatut sich in die Länge zogen und zu einem ernsten Konflikt zwischen Regierung und Patronat führten, wollte er nicht noch eine Front eröffnen. Aber das kostete Zeit.

Unterdessen beginnen die Parteien sich zu positionieren, und womöglich könnte im Wahlkampf das solidarisch finanzierte Umlageverfahren wieder stärker in Frage gestellt werden. Während von den Regierungsparteien weder CSV-Präsident François Biltgen noch LSAP-Präsident Alex Bodry sich jetzt schon rentenpolitisch äußern will, ist die Oppo­si-tion dazu bereit. DP-Präsident Claude Meisch findet, „die zweite und die dritte Säule“ aus betrieblichen Zu­satzrenten und privater Vorsorge müssten „wei­ter gestärkt“ und in die aktuel­le Umlage „Elemente der Kapitadeckung aufgenommen werden“. Ob damit gemeint sein könnte, Berufsanfänger künftig in die Kapitaldeckung zu nehmen, wie Di Bartolomeos Vorgänger Carlo Wagner es An­fang des Jahres in einer Interpellation in der Abgeordnetenkammer vorschlug, sagt der DP-Vorsitzende nicht. Zuletzt hatte die DP 1999 in ihrem Wahlprogramm das Umlageverfahren „mittel- bis langfristig“ in ein Kapitaldeckungsverfahren umwandeln wollen.

Damit scheint Meisch dem Fraktionspräsidenten der Grünen, François Bausch, nahe, der überzeugt ist, „dass die Pensionen in ihrer derzeitigen Höhe auf Dauer nicht allein mit dem Umlageverfahren finanzierbar sind“ und es ebenfalls „mit dem zweiten und dritten Pfeiler stützen“ will. Die nötige Reform sei innerhalb einer Legislaturperiode mit einer „ruhigen Diskussion“ aushandelbar; man dürfe „nur nicht erst am Ende der Legislaturperiode anfangen, wie Mars Di Bartolomeo“. Und man müsse bald damit beginnen: Bis eine Rentenreform abgeschlossen sei, dauere es eine Generation. Sonst zahlten die Jungen zweimal – für die schon Pensionierten in die Umlage, und pri­vat für sich.So viele Bekenntisse zur privaten Vorsorge erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste Regierung Reformschritte einleiten könnte, über welche die derzeitige noch nicht sprach. Dass Premier Juncker Anfang 2007 in einem Pressebriefing nach dem Regierungsrat unvermutet erklärte, rentenpolitische Untätigkeit sei „ein Verbrechen an unseren Kindern“, konnte man auch als Versuch verstehen, einer noch gar nicht geäußerten Oppositionskritik öffentlichkeitswirksam zuvor zu kommen. 

Bekenntnisse zur privaten Vorsorge aber könnten 2009 womöglich entscheidend sein, falls es an die Bildung einer Koalitionsregierung geht. Dass damit ein CSV-Politiker beauftragt werden könnte, ist immerhin nicht ganz unwahrscheinlich. Aber noch Anfang 2007 hatte Budgetminister Luc Frieden versprochen, zur nachhaltigen Sanierung der Staatsfinanzen werde man sich der „einmalig hohen“ Sozialtransfers annehmen (d‘Land, 23. März 2007). 

Sofern der LCGB sie nicht daran hindert, könnte so ein Vorhaben für die CSV mit DP oder Grünen leichter umzusetzen sein als mit der LSAP. So gesehen, erhält Junckers Bemerkung beim Herbstfest der Süd-CSV vor einer Woche in der Tetinger Schuhfabrik, er warte auf eine Antwort des Koalitionspartners zur Zukunft der Mammerent, eine gewisse programmatische Bedeutung. Wie die Antwort Mars Di Bartolomeos: Die CSV, sagt er dem Land, habe in der Koalition seit vier Jahren keinen Gesprächsbedarf zur Mammerent mehr angemeldet. Falls es darum gehe, sie aus den Pensionskassen zu finanzieren, dann sei das mit ihm als Sozialminister „nicht zu machen“. 

Peter Feist
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