Am 17. Januar traf sich die Regierung zu einer außerordentlichen Kabinettsitzung. Sie beschloss, die Einführung einer Impfpflicht hinauszuzögern. Seither setzt sie ihren Beschluss konsequent um.
Für die Abfassung eines Gesetzentwurfs wurden drei Monate veranschlagt. Dann wandert der Entwurf durch Ausschüsse, Expertengremien, Berufskammern, Staatsrat und Parlamentskommission. Das dauert weitere Monate. Das Gesetz tritt nicht gleich in Kraft. Der Schlussartikel soll eine Wartefrist festlegen. Übergangsregelungen räumen eine letzte Chance ein, sich ungestraft impfen zu lassen. Impfen dauert einen Monat, mit Boostern vier. Das kommt auch für die nächste Covid-Welle zu spät.
Covid-Gesetze bringt die Regierung sonst in einer Woche durch. Sie tut alles, damit die Impfpflicht ein Papiertiger bleibt. Vor einem Jahr hatte sie damit gerechnet, dass sich fast alle impfen ließen. Dann würden die letzten Ungeimpften neidisch. Stattdessen mobilisieren Impfgegner gegen Staat und Regierung. Der Unternehmerverband UEL fordert eine Impfpflicht. Hygienevorschriften stören das Wirtschaften. Die Impfgegner warnen vor der Schaffung einer „Zweiklassengesellschaft“. Sie denken, in einer Einklassengesellschaft zu leben.
Abstrakt sind in einer Klassengesellschaft alle vor dem Gesetz gleich. Konkret verfügen die Gesellschaftsklassen ungleich über wirtschaftliche, politische und kulturelle Macht. Das macht sie vor einer Impfpflicht ungleich. Deshalb sind sich die politischen Parteien uneinig.
Die CSV ist eine konservative Partei. Sie ist für einen starken Staat. Ihre Wählerinnen sind alt. Sie verspricht Sicherheit. Sie ist für eine allgemeine Impfpflicht. Sie erwartet Zugeständnisse der Regierung.
Die Mittelschichtenwähler der DP wollen ein Ende der Hygienevorschriften. Damit die Wirtschaft dreht. Sie wollen jung und selbständig sein: Die DP will eine Impfpflicht für Alte und Pflegepersonal.
Ein Teil der LSAP-Wähler sind Arbeiter. Sie leben in bescheidenen Verhältnissen. Das macht sie misstrauisch. Die LSAP bangt um die Popularität ihrer Spitzenkandidatin Paulette Lenert. Sie möchte sich an einer Impfpflicht vorbeidrücken.
Grüne Wählerinnen schimpfen gegen die Allopathie. Die Koalitionsdisziplin ist stärker als Globuli: Die Partei ist für eine Impfpflicht. Um sich unnötige Diskussionen zu ersparen, wollte sie eine allgemeine. Nun fügt sie sich DP und LSAP.
Die ADR ist entzückt über die verbissenen Kleinbürger, die gegen das Impfen demonstrieren. Sie dient sich ihnen als parlamentarisches Sprachrohr an.
Die Linke bewundert die verbissenen Kleinbürger heimlich. Sie misstraut Big Pharma. Sie lehnt die Impfpflicht ab.
Die Piraten wurden als Protestpartei gewählt. Ihre Abgeordneten spielen staatstragend. Die Partei ist gegen eine Impfpflicht. Aber nicht im Ernst.
Vielleicht lässt sich die Impfpflicht nicht verzögern, bis sie überflüssig ist. Für diesen Fall wollen DP, LSAP und Grüne sie einschränken. Sie soll nur für Alte, Kranken- und Altenpflegerinnen gelten. Dazu bestellte die Regierung einen Expertenbericht. Die Experten wollen nicht alle Einwohner und Grenzpendlerinnen impfen. Sie wollen den Gesundheitsbetrieb schützen. Ein Konflikt mit den Kranken- und Altenpflegerinnen würde deren Macht zeigen. Der OGBL zieht eine allgemeine Impfpflicht vor.
Bußgelder für ausgewählte Gruppen verstoßen gegen das abstrakte Gleichheitsgebot. Die Diskussionen und Gerichtsverfahren werden die Impfpflicht weiter verzögern.
Die Gesundheitsministerin lobt die Impfpflicht nicht als einen der größten Erfolge in der Geschichte des Gesundheitswesens. Sie macht Stimmung dagegen. Sie nennt sie „Ultima Ratio“. Kardinal Richelieu nannte den Krieg die „ultima ratio regum“. Die ehemalige Richterin hält die Impfpflicht für einen Krieg gegen die Ungeimpften. Wer will schon Krieg gegen die eigene Wählerschaft führen?