Ohne Parteien und Gewerkschaften gehen seit Monaten Hunderte oder Tausende spontan auf die Straße. Sie rebellieren gegen Hygienevorschriften. Sie nennen sich Opfer einer Verschwörung von Regierung, Presse und Wissenschaft. Die Regierung diagnostiziert einen Fall akuter Begriffsstutzigkeit.
Das Gegenteil ist wahrscheinlicher: Es gab schon vor der Covid-Seuche einen Teil der Gesellschaft, der sich vom Staat vernachlässigt fühlte. Der sich nicht mehr mit ihm identifizierte. Dieser stumme Protest wurde in der politischen Gewinn- und Verlustrechnung zwischen Startups, Investitionsfonds und Elektromobilität als soziale „frais divers“ verbucht. Er drückte sich in einer Stimmabgabe für die ADR, die Piratenpartei oder in weißen Stimmzetteln aus. Die Seuche wurde zum Katalysator. Sie trieb die Unsichtbaren auf die Straße und machte sie sichtbar. Vom Bürgersteig applaudiert die ADR.
Der Soziologe Robert K. Merton entdeckte, dass viele Menschen am Widerspruch zwischen den „culturally defined aspirations and socially structured means“ litten. „The extreme emphasis upon the accumulation of wealth as a symbol of success“ stehe im Widerspruch dazu, dass „the actual social organization is such that there exist class differentials in the accessibility of these common success-symbols“ („Social Structure and Anomie“, American Sogiological Review, 1938, S. 674).
Neben ökologisch oder liberal bewegten Bürgern stellen „regressive Rebellen“ einen wichtigen Teil der Demonstrierenden. So nennen die Soziologen Maurits Heumann und Oliver Nachtwey Leute, die in der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft nicht den beruflichen Erfolg oder das Familienglück genießen, auf die sie ein Anrecht zu haben glauben. „Da ihnen die institutionellen Wege des gesellschaftlichen Aufstiegs und persönlichen Glücks nicht (mehr) zugänglich sind, suchen sie nach alternativen Wegen, diese Ziele zu erreichen. Ihr wiederholtes Scheitern führt jedoch dazu, dass sie die Institutionen und schließlich die gesamte soziopolitische Ordnung ablehnen“ („Regressive Rebellen“, in: Katrin Henkelmann e.a., Konformistische Rebellen, Berlin, 2020, S. 393).
Die Rebellen wollen sich nicht für ihr Schicksal verantwortlich fühlen. Sie erklären sich mit viel Pathos zu Opfern finsterer Mächte: „[T]heir compulsiveness has reached the stage of fanaticism“, schrieb Theodor W. Adorno über Menschen, die heute als Schwurbler beschimpft würden. „In order to confirm to each other their pseudoreality, they are likely to form sects.“ Die Sektentempel stehen derzeit bei Facebook, Twitter und Telegram. „A significant social trait is semi-erudition, a magical belief in science. [...] They can hardly be expected above a certain educational level, but also rarely among workers“ (The Authoritarian Personality, New York, 1950, S. 765).
Der trotzige Ruf nach grenzenloser „Liberté!“ des Einzelnen ist für Heumann und Nachtwey „vor allem eine Zurückweisung des Ichs, das das Realitätsprinzip dem Es gegenübersetzt. Sie wollen keinerlei Beschränkung in ihrem Handeln, keinerlei Beschränkung in der Lust des Ressentiments“ („Autoritarismus und Zivilgesellschaft“, IFS Working Paper #16, 2021, S. 64). Auch keine Beschränkung durch Mundschutz, Impfpflicht oder eine neue Verfassung.
Diese Entfremdung spiegelt „weitgehend das Wesen einer Warenwirtschaft wider, in der der Mensch als Produzent und Konsument von Waren und nicht als Subjekt seiner Gesellschaft erscheint“, meint Adorno. „Blindheit gegenüber objektiven Gesetzmäßigkeiten und, letztendlich, das Verdrängen von Erkenntnissen, die die Harmonie zwischen Gesellschaft und Individuum stören, sind selbst Produkte des Wirtschaftssystems. Zwangsläufig sind die Menschen so irrational wie die Welt, in der sie leben“ (Bemerkungen zu „The Authoritarian Personality“. Berlin, 2019, S. 45).