ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Marktwirtschaftliche Grundsätze

d'Lëtzebuerger Land du 28.01.2022

Zum Jahresbeginn kündigte die Firma Enovos ihren Kunden Preiserhöhungen an: „[N]ous avons ajusté le montant de vos acomptes.“ Als Folge der „évolution des prix sur le marché du gaz naturel“. Im Index der Verbraucherpreise stieg der Gaspreis vergangenes Jahr um 62 Prozent.

Enovos ging 2009 aus der Cegedel hervor. Weil die Europäische Union den Energiemarkt nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen liberalisierte. Das war ein feierliches Hochamt für „die Märkte“. Im Europaparlament war Berichterstatter Claude Turmes einer der Chorknaben. Als Energieminister wehrt er sich heute gegen eine Reform.

Die Konkurrenz sollte alles billiger machen: „Sparen Sie Geld mit unseren niedrigen Strom- und Gaspreisen!“ Das versprach die Beckericher Firma Eida. Am
13. Dezember 2021 kündigte sie an, „die Stromlieferungen einzustellen“. Ihr Lieferant sei in Konkurs gegangen. Am Heilig Abend ergänzte sie, sie verfüge „nicht mehr über ausreichende finanzielle Reserven zur Vorfinanzierung des für die Versorgung notwendigen Erdgases“.

In den vergangenen 13 Monaten stieg der Benzinpreis im Index der Verbraucherpreise um 40 Prozent. Der Dieselpreis stieg um 45 Prozent und der Heizölpreis um 91 Prozent. Seit einem Jahr wird auf Benzin, Diesel, Heizöl und Gas eine zusätzliche Steuer erhoben. Sie soll die Freisetzung von Kohlenstoffdioxid verteuern. Anfang dieses Jahres wurde die Steuer erhöht. Sie macht fünf bis 9,5 Cent pro Liter beziehungsweise Kubikmeter aus. Sie wird nicht im Index berücksichtigt.

Im Index der Verbraucherpreise blieb der mittelfristige Strompreis noch unverändert. An der europäischen Energiebörse Epex stieg vergangenes Jahr der kurzfristige Strompreis für Deutschland und Luxemburg von 44 auf 221 Euro pro Megawattstunde.

Die weltweite Nachfrage am Ende der Covid-Rezession lässt die Energiepreise steigen. Die Erdöl- und Erdgaslieferanten in Riad, Moskau und Texas spekulieren darauf. Die Liberalisierungspolitik der Europäischen Union ermutigt sie. Mit Preiserhöhungen macht die Regierung Umweltpolitik.

Man kann sich verschiedene Methoden vorstellen, um die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle zu reduzieren. Die Regierung hat sich für die marktkonforme entschieden. Einer der Pioniere war das Mouvement écologique. Im Wahlkampf 1994 hatte es vorgerechnet: „Würde man in diesem Fall marktwirtschaftliche Grundsätze, oder das Verursacherprinzip, anwenden und diese externen Kosten in den Benzinpreis einschließen, so müsste der Benzinpreis etwa 50 – 80.- Flux betragen!“ (Fir eng ekologesch Politik, S. 23). Die Grünen machten die marktwirtschaftlichen Grundsätze zu ihren. Sie schlugen vor, den Benzinpreis binnen zehn Jahren auf 100 Franken pro Liter zu erhöhen. So kamen sie erst 20 Jahre später in die Regierung.

Heute entspricht der Benzinpreis 64 Franken. Neben den hohen Mieten belasten steigende Heizkosten und Fahrkosten viele Haushalte. Die Erhöhung der Steuergutschrift und der Teuerungszulage gleicht das nicht aus.

Eine Energiewende nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen verschont die Produzenten und macht den Konsumentinnen ein schlechtes Gewissen. Sie wälzt die Kosten auf die Endverbraucher ab. Unter ihnen auf die Bezieherinnen mittlerer und niedriger Lohn- und Ersatzeinkommen. „Lifestyle ecologists“ (Matt Huber) tun so, als ob am Mindestlohn lebende Familien über ihren Konsum anders entscheiden könnten als ihn weiter einzuschränken.

Statt lebenswichtige Gebrauchswerte aus der Warenzirkulation zu befreien – wie den öffentlichen Personentransport –, fügt die Energie- und Umweltpolitik neue hinzu: Wenn ein Preismechanismus entscheidet, braucht man bloß für die Verfeuerung von Umwelt zu zahlen. Über CO2-Zertifikate für die Betriebe oder über CO2-Steuern für Haushalte und Tanktouristen. Dann können die besitzenden Klassen sich viel Umweltverschmutzung leisten. Sie bekommen kein schlechtes Gewissen. Sie bekommen Zuschüsse.

Romain Hilgert
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