Zukunft der EU

Brexit or Bremain?

d'Lëtzebuerger Land vom 26.02.2016

Es sind noch rund 120 Tage bis zum Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union. Die letzten Umfragen in Großbritannien von dieser Woche zeigen eine äußerst knappe absolute Mehrheit der Stimmen für einen Verbleib in der EU. Bei der relativen Mehrheit liegt das „In“-Camp aber mit gut zehn Prozent recht komfortabel vor dem „Out“-Camp. Wie in den meisten Wahlen kommt es auch bei der Brexit-Ja-oder-Nein-Frage im entscheidenden Augenblick auf die Unentschlossenen an und damit auf die Tagesaktualität.

Nach der inszenierten Drama-Nacht von Brüssel, mit der sich David Cameron als Drachentöter der britischen Öffentlichkeit darbieten wollte, hat Boris Johnson, im Mai aus dem Amt scheidender Londoner Bürgermeister, noch am Sonntagabend in der englischen Tageszeitung Telegraph Position bezogen. Der über alle Parteigrenzen hinweg beliebte Tory-Politiker entschied sich dafür, schweren Herzens natürlich, gegen den Verbleib in der EU zu sein. Seitdem gilt in Großbritannien die Einmal-in-einer-Generation-Frage „Sollte das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder sollte es die Europäische Union verlassen“ als ein Hahnenkampf zwischen zwei Studienfreunden und politischen Rivalen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Boris Johnson in seinem Leben einmal Premierminister sein möchte. Dafür setzt er alles auf eine Karte. Gewinnen die Brexit-Befürworter, wird ihm die Führung des Landes wohl in den Schoß fallen. Verlieren sie ist Boris Johnson, politisch gesprochen, klinisch tot und nur noch eine Wiederbelebungsaktion der Konservativen könnte ihn zurück auf die politische Bühne führen.

Neben Johnson stehen sechs Minister und etwa die Hälfte der Tory-Abgeordneten auf Seiten der Brexit-Befürworter. In ihren Augen ist die EU das Monster, das den Briten die Seele, sprich die Souveränität, langsam aber sicher, aussaugt. So wie man die britische Presse kennt, wird es bis zum 23. Juni eine unterhaltsame Schlammschlacht geben. Es wäre schön, wenn Kontinentaleuropäer darüber lachen könnten. Aber es wird wohl so sein, dass sie nun tagtäglich erfahren werden, dass die eine Hälfte nur darum mit ihnen leben will, weil es ihr ohne sie schlechter ginge, und die andere Hälfte sie so übergriffig, unsympathisch und fremdartig findet, dass man lieber nichts mit ihnen zu tun haben will. Selbst ein britisches Ja zu Europa wäre keine Liebeserklärung, sondern käme einer Zwangsheirat gleich.

Viele wünschen sich nichts lieber, als dass diese Die-spinnen-die-Engländer in der EU bleiben. Das Problem dabei ist, dass es für das Referendum kein positives Votum gibt. Steigt das Vereinigte Königreich aus, beginnt eine Phase großer Unsicherheit, die auch dem Kontinent nicht bekommen wird. Unsicherheit ist das, was Unternehmen am meisten hassen und sie wird nicht nur den Unternehmen in Großbritannien schaden, sondern auch in der EU. Langfristig könnte ein Austritt zu einem besseren inneren Zusammenhalt beitragen und vielleicht sogar zu einem Katalysator für eine größere Integration werden. Dass er das Signal für einen Zerfall der EU sein könnte, wie in England gerne vermerkt, dürfte eher typische britische Selbstüberschätzung sein.

Stimmen die Briten, was wahrscheinlich ist, für einen Verbleib in der EU, beginnen die Sorgen erst. Die Formulierungen im Beschluss des Europäischen Rates zur Stellung des Finanzplatzes London sind zum Beispiel so schwammig, dass sich daran im Konfliktfall schnell wieder eine Ausstiegsdiskussion entzünden kann. Die Euro-Staaten kommen jedenfalls auf die meist entscheidende qualifizierte Mehrheit. Abzuwarten bleibt, ob sich weitere EU-Staaten innerlich so vollständig von der EU lösen, wie es die Briten getan haben. Wenn ja, wird es schwer werden, den heutigen Zusammenhalt zu wahren.

Es ist wahrscheinlich, dass ein Verbleib der Briten das unwiderrufliche Signal für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten sein wird. Dann degeneriert die heutige EU langsam, aber sicher zu einer reinen Freihandelszone. Aus dem Kreis ihre Mitglieder aber könnte sich eine Gemeinschaft entwickeln, die sich ernsthaft auf den Weg in einen europäischen Bundesstaat macht. Wie auch immer das britische Referendum ausgehen wird: Es wird ein Ende sein, dem ein Anfang innewohnt. Christoph Nick, Brüssel

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