„Witze sind die Flaschenpost, mit der die Verzweifelten ihre gellendsten Hilfeschreie aussenden.“ David Foster Wallace
Die Puristen sind schockiert. Wie kann jemand es wagen, den Kultroman Infinite Jest von David
Foster Wallace, der bei seiner Erstveröffentlichung 1996 sofort zur Bibel einer desillusionierten Generation wurde und dessen deutsche Übersetzung, Unendlicher Spaß, an der Ulrich Blumenbach sechs Jahre lang gearbeitet hat, über 1 500 Seiten dick ist, zu einem Theaterstück von knapp vier Stunden zusammenzustreichen? Thorsten Lensing kann. Wie er es schon bei Dostojewskijs Brüder
Karamasow gemacht hatte, ein Stück das den über tausendseitigen Roman auf ein Fragment, ein Skelett reduzierte, mehrfach ausgezeichnet wurde und vor zwei Jahren im Grand Théâtre gastierte. Lensing, 1969 geboren, hat sich einen Namen in der freien Theaterszene gemacht. Er arbeitet langsam und textorientiert, macht nur ein Stück alle zwei oder drei Jahre und kann jeweils die besten Schauspieler verpflichten: Ursina Lardi, Sebastian Blomberg, Devid Striesow und der Luxemburger André Jung sind wieder mit dabei. Zwei Jahre lang hat Lensing an der Textfassung gearbeitet, diesmal zusammen mit dem jungen Luxemburger Dramaturgen und Regisseur Thierry Mousset. Auch Lensings Probenprozesse sind ungewöhnlich, ziehen sich über längere Perioden hin. Thorsten Lensing liebt und vertraut Schauspielern und sie geben es ihm zurück. Letzte Woche feierte Unendlicher Spaß in Berlin Premiere. Die Koproduktion der Théâtres de la Ville de Luxembourg kommt im November nach Limpertsberg.
Hal Incandenza ist ein „Tennis- und Wörterbuchwunder“ und gerade mal 18 Jahr alt, wenn das Stück beginnt. Er spricht an der Uni vor, erleidet jedoch einen Nervenzusammenbruch und kann nur noch einen schmerzerfüllten Schrei von sich geben. Flashback zu Hals elf Jahren, ab denen die Geschichte dann linear weitererzählt wird. Ursina Lardi, die schon bei Karamasow dabei war, jedoch auch in Romeo Castelluccis Ödipus der Tyrann oder Milo Raus Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs internationales Aufsehen erregte, ist ein wunderbar zierlicher, ganz in Adidas-Weiß gekleideter und auf Plateauturnschuhen stelzender Hal. Überdurchschnittlich intelligent und sportlich sehr begabt, ist Hal auch ein zärtlicher Bruder für den etwas älteren Mario, der „schrecklich verfrüht und verhunzelt“ auf die Welt gekommen ist und sich heute nicht als behindert definiert, sondern als stünde er bloß vor „charakterbildenden körperlichen Herausforderungen“. André Jung spielt den bald 18-, bald 20-Jährigen mit großer Finesse, einer naiven Lebensfreude und einem Glauben an Gott und die Welt, die ihn zur positivsten Figur des Stückes machen. Die nächtlichen Dialoge zwischen Hal und Mario, an der langen Metallplatte der Bühne lehnend und auf ein Kissen gebettet, gehören zu den bewegendsten Momente des Stückes. Der große Bruder der beiden, Orin, ist American-Football-Spieler, sexbesessen und kaum an der Familie interessiert. Devid Striesow verpasst ihm eine Mischung aus Zynismus und Verlorensein.
Foster Wallace, selbst manisch-depressiv – er erhängte sich nach einer langen Leidensgeschichte 2008 – glaubte an Humor als Ausweg aus dem Leiden des Lebens, oder als Möglichkeit, dieses Leiden zu transzendieren. Genau diese Philosophie übernimmt Thorsten Lensing in seiner Lektüre des Romans: wenn nichts einen Sinn hat, kann man auch über die Grausamkeit des Lebens lachen. Sebastian Blomberg, der als Vogel in Orins Whirlpool einen Herzinfarkt erleidet, ist einfach zum Schreien komisch; Devid Striesow als komplexierter, umarmungsscheuer Ex-Junkie in der Gruppentherapie der Anonymen Alkoholiker unvergleichlich.
Neben dem Erzählstrang der Familie Incandenza hat Thorsten Lensing auch den der Drogenentzugsklinik zurückbehalten, unter der Aufsicht des früheren Diebes und schmerzmittelsüchtigen Don Gately (sehr zurückhaltend gespielt von Heiko Pinkowski): hier begegnen wir all den Ausgeschlossenen Amerikas, den Süchtigen, den vom Leben Gezeichneten. Die Geschichte der cracksüchtigen Grace (Jasna Fritzi Bauer), die ihre Schwangerschaft und die Totgeburt ihres Babys sehr nüchtern schildert, ist fast unerträglich. Denn in dieser Leistungsgesellschaft Amerika, die Foster Wallace porträtiert, gibt es auch die Geschundenen, die Vergessenen, die Phobischen und die Verlierer. „Ein Roman aus Scherben“ nennt der Pressetext Infinite Jest. Aus diesen Scherben macht Thorsten Lensing ein aufwühlendes Mosaik.