In Erziehung und Bildung setzt die Dreierkoalition auf Weiter so. Einkommensschwache Familien sollen stärker unterstützt werden
– wodurch ihre Abhängigkeit vom Staat zunehmen könnte

Mobilmachung

d'Lëtzebuerger Land du 07.12.2018

Konsolidierung lautet das Motto der Bildungspolitik für die nächste Legislaturperiode. Das kann kaum erstaunen, denn das hatten alle großen Parteien in ihre Wahlprogramme geschrieben: Von DP bis zur Opposition CSV wurde das Versprechen an die von Reformen und Personalnot zermürbte Lehrerschaft gegeben, keine weiteren Umwälzungen im Schulwesen zu planen, sondern erst die vielen Initiativen, die unter dem alten und neuen Erziehungsminister Claude Meisch (DP) gestartet wurden, umzusetzen, wirken zu lassen und gegebenenfalls nachzujustieren.

Dass Meisch mit den Ressorts Schule, Hochschule, Forschung, Kindheit und Jugend das erziehungspolitische Zepter in der Hand behält, ist auch keine Überraschung: Der liberale Politiker hatte im Wahlkampf gesagt, dass er weitere fünf Jahre als Erziehungsminister anhängen würde, sollten die Wählerinnen und Wähler ihn bestätigen. Die Zustimmung ist lang nicht so hoch ausgefallen wie vor fünf Jahren, Meisch verlor deutlich an Stimmen (fast 7 000) und wurde im Süden Zweiter hinter Pierre Gramegna, was die Gewerkschaft SEW hämisch veranlasste, einen schulpolitischen Kurswechsel zu fordern.

Parteiintern und in der Dreierkoalition ficht das schlechte Wahlergebnis seine Position aber nicht an: Meisch gehört zum inneren Zirkel der DP, neben Xavier Bettel, Corinne Cahen und Marc Hansen. Zudem ist das Bildungsressort ein politischer Schleudersitz, Sympathiepunkte gibt es kaum zu gewinnen. Das überlassen ihm die KollegInnen gerne, zumal Meisch fünf Jahre Erfahrung hat und die vielen Projekte und Baustellen aus dem FF kennt. Das erziehungspolitische Kapitel trägt denn auch vor allem seine, die liberale Handschrift – allerdings dieses Mal mit sichtbaren roten und grünen Einsprengseln.

Messlatte für die Bildungs- und Betreuungspolitik ist die Chancengleichheit, die dem Kapitel im Koalitionsvertrag als Leitmotiv vorangestellt ist. Ob Meisch dieses Versprechen mit mehr Schul- und Sprachangeboten, Gratis-Betreuung und mehr erzieherischer Unterstützung (auch in den Lyzeen) für Schüler mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten einlöst, wird sich zeigen. Eine erste Einschätzung, in welche Richtung seine Reformen wirken, wird vielleicht ab nächste Woche möglich sein, wenn der mit Spannung erwartete Bildungsbericht 2018 der Universität Luxemburg vorgestellt wird. Am Grundsatz der Differenzierung der öffentlichen Schule hält die Dreierkoalition fest, sie soll in den nächsten Jahren ausgebaut werden. So ist eine öffentliche Europaschule für die Hauptstadt geplant.

Mehr Ganztagsschulen hatten DP, LSAP und Grüne in ihren Wahlprogrammen außerdem gefordert; sie sollen ein Rahmengesetz bekommen, damit es in Zukunft einfacher wird, derlei Angebote auf die Beine zu stellen. Von den Grünen, die als einzige Koalitionspartei Stimmen hinzu gewannen, stammt der thematische Fokus der Nachhaltigkeit: Lehrpläne sollen im Sinne der Nachhaltigkeit überarbeitet, Schüler für die „komplexen Herausforderungen unserer Gesellschaft“ sensibilisiert und dazu angehalten werden, ihr Verhalten im Sinne der Nachhaltigkeit zu ändern. Was das konkret meint, wie nachhaltiger Unterricht aussehen kann und ob die Verhaltensänderung für die Erwachsenen auch gilt, bleibt unklar.

Vage Formulierungen gibt es im Erziehungskapitel häufig, etwa wenn es um die Verbesserung der Lehreraus- und -weiterbildung geht, die geplante Stärkung der Medienerziehung oder die Professionalisierung der Erwachsenenbildung. Das Weiterbildungsinstitut Ifen erhält eine Zweigstelle in Esch-Alzette. Es soll Fortbildungen im Umgang mit digitalen Medien geben, Programmieren, Naturwissenschaften, die Gleichheit zwischen den Geschlechtern sowie der Musikunterricht sollen gefördert werden, ebenso die politische Bildung und die Finanzkompetenzen, ohne dass den Lippenbekenntnissen konkrete Vorschläge zur Umsetzung folgen würden. Die PräsidentInnen der Grundschulkomitees sollen, wieder mal, mehr Weisungskompetenz erhalten; ein Zugeständnis an die Grünen, die seit Jahren starke Direktionen fordern; anders als die LSAP, die aus Rücksicht auf die Gewerkschaft SEW da stets auf der Bremse stand. Ein Beleg für das neue Kräfteverhältnis in der Dreierkoalition, in dem die Grünen auf Kosten der LSAP gestärkt wurden.

Vielleicht gelingt Meisch ja das kleine Wunder und seine Politik trifft in der zweiten Amtszeit auf mehr Verständnis. Dabei helfen könnte der Bildungstisch, den er sich aus dem Ausland abgeschaut und in seinem Buch Staark Kanner vorgestellt hat. Lehrer, Erzieher, Schüler, Eltern, Vertreter der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und die Sozialpartner sollen sich an einen Tisch setzen und gemeinsam bildungspolitische Schwerpunkte setzen. Solch eine Plattform wäre nicht im Sinne der Gewerkschaften, deren Einfluss unter Meisch gestutzt wurde. Aber bei Eltern und Öffentlichkeit könnte der partizipative breite Ansatz gut ankommen. Der Tisch wäre der Ort, wo diskutiert, wo Erkenntnisse aus Bildungsberichten, von Beobachtungsstellen und MediatorInnen sowie Praxiserfahrungen zusammengeführt würden. Dafür müsste sich Meisch jedoch in einer Tugend üben, die ihn bisher nicht übermäßig auszeichnete: loszulassen. Damit das Gremium gesellschaftliche Akzeptanz findet, darf die Zusammensetzung nicht etwa parteipolitischen Erwägungen folgen, sondern Teilnehmende müssten in ihrer Meinung frei sein. Die ExpertInnen der Beobachtungsstelle, die dem Bildungstisch zuarbeiten, wurden vom Minister berufen. Alles hängt also davon ab, wie die Teilnehmenden ausgewählt und was die zukünftigen Arbeitsschwerpunkte sein werden. Zwei Themen gibt das Abkommen dem Gremium mit auf den Weg, die Lehrerausbildung und die Rekrutierung.

Außer mit dem Bildungstisch könnte Meisch mit der Gratis-Betreuung während der Schulzeit punkten, die landesweit für Vorschul- und Grundschulkinder kommen soll. Zwar steht nirgendwo, was das Angebot kosten wird und was das für die Chèque-service heißt, aber das gilt für sämtliche Versprechen und Maßnahmen, die im Regierungsabkommen stehen. Die Erweiterung der staatlich finanzierten Betreuung wird Trägern und Gemeinden einiges abverlangen, der Druck bleibt hoch.

Eine Garantie, dass diese Charmeoffensive aufgeht, gibt es nicht: Auch wenn große Reformen fehlen, Kleinvieh macht auch Mist, und da Meisch und die Dreierkoalition ihre Politik in den Hauptzügen fortsetzen, könnte noch einiger Ärger ins Haus stehen, wenn nicht durch die Lehrer, dann über ihre Vertretungen – auch wenn der Minister brisante Punkte, wie die (inhaltliche) Tâche des Lehrers an den Bildungstisch weiterreichen will. Das SEW hat sich von der „neoliberalen Ausrichtung“ distanziert und wird sicher mobilisieren; auch das mitgliederstärkere SNE mahnte auf einer Pressekonferenz, zunächst die letzten Reformen wirken zu lassen; das Syndikat hatte zuletzt große Schwierigkeiten, seiner Basis den Kompromiss bei der Rekrutierung von Seiteneinsteigern zu vermitteln, mit dem Meisch der strukturellen Personalnot in den Grundschulen beikommen will.

Noch etwas könnte den ruhigen Konsolidierungsplänen einen Strich durch die Rechnung machen: Zwar beschwört die Dreierkoalition die Chancengerechtigkeit und hat hier Hilfe versprochen, etwa durch staatlich geförderte Nachhilfeplattformen, Sommer-Lerncamps, mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen. Doch noch ist ungewiss, ob die Initiativen den gewünschten Effekt haben und wirklich helfen werden, die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich zu schließen. Eine solide Schul- und Ausbildung als Startkapital, um in der sich immer schneller ändernden Arbeitswelt mithalten zu können, wird immer wichtiger. Eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, die die blau-rot-grüne Koalition auch die kommenden Jahre aktiv antreibt.

Der finanziell aufgewertete Elternurlaub und der verlängerte Vaterschaftsurlaub, den die Dreierkoalition in der vergangenen Legislaturperiode beschlossen hat, um Beruf und Familie besser zu vereinbaren, sollen durch einen erweiterten unbezahlten Elternurlaub, einen verbrieften Anspruch auf Eltern-Teilzeit mit dem Recht zurück in Vollzeit zu wechseln und mehr Telearbeit ergänzt werden. Solche Maßnahmen zielen auf die Mittelschicht ab, die es sich finanziell leisten kann, dass ein Partner eine Zeit kürzer tritt. Haushalte, wo sich beide um die Kindererziehung kümmern, sollen zusätzliche freie Tage bekommen. Das ist insofern ein Bekenntnis zu Gleichstellung, weil gleichberechtigte Familienorganisation belohnt würde. Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördert die Erwerbstätigkeit und finanzielle Unabhängigkeit von Frauen und wirkt so langfristig vorbeugend gegen Altersarmut. Es ist aber vor allem auch eine Maßnahme, um bei knapper werdendem und über die Landesgrenze hinaus ausgeschöpftem Arbeitskräfte-Reservoir alles zu mobilisieren, was noch da ist. Elternurlaub und Gratis-Betreuung sind zugeschnitten auf erwerbstätige Eltern, die Beruf und Familie unter einen Hut bekommen wollen – und müssen. Denn die Lebenshaltungskosten, insbesondere die Kosten für die Unterkunft, machen in vielen Haushalten ein Viertel bis ein Drittel der Gesamtausgaben aus. Wenn nicht mehr.

Es gibt Bevölkerungsgruppen, die vom regulären Arbeitsmarkt zunehmend abgehängt sind, wo Familien und ihre Kinder drohen, dauerhaft in Armut abzurutschen. 23,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren hierzulande sind laut Eurostat armutsgefährdet. Die alte und neue Familienministerin Corinne Cahen, wie Meisch DP, will analysieren lassen, was Kinder großzuziehen genau kostet und inwiefern Sozialleistungen beitragen, Armut von Familien mit Kindern zu mindern. Besonders alleinerziehenden Müttern soll unter die Arme gegriffen, ihre Steuerlast soll reduziert werden. Die Teuerungszulage soll ebenfalls angepasst und die Familienzulagen sollen wieder an den Index gekoppelt werden. Langzeitarbeitslose, die das soziale Mindesteinkommen, neuerdings Revis genannt, beziehen, sollen durch Aktivierungsmaßnahmen wieder fit für den Arbeitsmarkt gemacht werden. Ansonsten setzt Blau-Rot-Grün auf Sachleistungen.

Die 100 Euro, die Beschäftige am unteren Ende der Lohnskala künftig mehr erhalten sollen, sind ein Beitrag gegen Armut trotz Erwerbsarbeit, riskieren aber Folgekosten zu verursachen, die bisher nicht berücksichtigt worden sind: Was bedeutet es beispielsweise für den Mietzuschuss, der einkommensabhängig gewährt wird, auf den immer mehr einkommensschwächere Haushalte aber angewiesen sind? Wird er ebenfalls angehoben, und was würde das wiederum für den Mietwohnungsmarkt bedeuten, dessen Preise seit Jahren nur eine Richtung kennen: die nach oben? Vor allem aber: Dieses Koalitionsprogramm könnte dazu beitragen, dass Geringverdiener stärker noch als bisher von Sozialtransfers abhängig werden.

Ines Kurschat
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