d’Land: Herr Minister, nennen Sie drei Schwerpunkte, die Luxemburgs Schulen Ihrer Meinung nach setzen müssten, um Schüler gut auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten?
Claude Meisch: Die Digitalisierung ist unverzichtbar, zumal für ein Land wie Luxemburg, das sich als digitale Nation positionieren will. Es geht mir nicht um technische Gadgets, sondern um digitale Kompetenzen und den Mehrwert der neuen Technologien auf pädagogisch-didaktischer Ebene, etwa für die Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern, für Projektarbeiten und anderes. Außerdem brauchen Schulen Konzepte und Ressourcen, um allen Schülern gleichermaßen eine Chance zu bieten. Gleiche Bildungschancen sind nicht nur eine ethische Frage. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, wenn Jugendliche unter ihren Möglichkeiten bleiben. Die Vernetzung wird immer wichtiger, sowohl innerhalb der Schulen als auch nach außen. Schule darf sich nicht nur auf sich konzentrieren, sondern muss sich in Frage stellen. Ihre Missionen sind heute andere als noch vor zehn, 15 Jahren.
Wie gut sind unsere Schulen für diese Aufgaben vorbereitet?
In der Digitalisierung müssen wir mit Projekten wie der mehrsprachigen Online-Plattform MathemaTIC, die wir gemeinsam mit ausländischen Partnern entwickeln, den internationalen Vergleich nicht scheuen. Auch in der technischen Ausstattung stehen wir gut da. Allerdings ist die Digitalisierung noch nicht in jeder Schule und jeder Klasse angekommen. Viel zu tun bleibt noch im Hinblick auf ein besseres Verständnis der Ursachen der Benachteiligung einzelner Schülerkategorien. Wir stellen mit jeder Bildungsstudie fest, dass unser Schulsystem da großen Nachholbedarf hat, aber verstehen die Mechanismen dahinter nicht genügend. In der Vernetzung haben wir einen großen Schritt nach vorne gemacht mit Instrumenten zur besseren Schulentwicklung. Sowohl in der Grundschule als auch auf der Sekundarstufe ist ein Reflexionsprozess in Gang gekommen.
Dauerkritik gab und gibt es an der beruflichen Orientierung, zentrale Weichenstellung auf dem Weg in die Berufsausbildung. Sie haben Schulen verpflichtet, sich diesbezüglich konzeptuell besser aufzustellen.
Es gab bereits 2014 einen Orientierungstag mit allen Schulen, ich habe da Ansätze meiner Vorgängerin aufgegriffen. Fast jedes Lyzeum präsentierte damals eigene Ideen und Projekte zur besseren Orientierung, so dass wir mit dem Gesetz zur Orientierung im Grunde Impulse aufgegriffen haben, die bereits bestanden. Die stärkere Systematisierung führt interessanterweise dazu, dass auch Akteure von außen an die Schulen herantreten, wie beispielsweise die Fedil mit dem Hello-Future-Projekt. Es soll zeigen, dass Industrie und Hightech zukunftsorientierte Branchen mit Entwicklungsperspektiven und Karriereaussichten sind. Man darf auch nicht vergessen, dass Orientierung sich eben nicht bloß auf die Wahl eines Berufs oder einer Sektion oder eines Studiums beschränkt, sondern dass davor ein Prozess steht, in dem ein junger Menschen seine Stärken und Schwächen kennenlernen, seine Talente und Wünsche in die Zukunft projizieren soll. Die Schule soll ihn bei dieser Selbstfindung unterstützen.
Sie haben den Schulen mehr Autonomie eingeräumt. Doch so viel größer ist der Spielraum nicht: Die zehn Prozent, die Lehrer für Projekte außerhalb des Lehrplans nutzen können, sind beispielsweise unverändert.
Ich lade Schulen dazu ein, den Freiraum zu nutzen, der heute schon besteht. In der Vergangenheit hatten Schulen bereits die Möglichkeit, zehn Prozent der Unterrichtszeit für Aktivitäten außerhalb des Lehrplans zu nutzen. Ich stelle aber fest, dass diese wenig für Innovationen genutzt wurden. Dank der Autonomie haben Schulen begonnen, sich deutlichere Profile zu geben. Neuerdings besteht die Möglichkeit, innerhalb einer Sektion verschiedene Fächer auszutauschen oder Sektionen zu entwickeln. Wie das zum Beispiel im Lyzeum in Ettelbrück geschehen ist, das einen Schwerpunkt nachhaltige Entwicklung und hierzu eine neue Sektion entwickelt hat. Umweltwissenschaften fehlten bislang in unserem Ausbildungsangebot.
Bildungsexperten sagen: keine Autonomie ohne Rechenschaft. Wie stellen Sie sicher, dass sich Schulen in die richtige Richtung entwickeln und die Profilierung nicht dazu führt, die Bildungsungleichheit zu verschärfen?
Das Ministerium entscheidet auf Grundlage der Qualität der Konzepte der Schulen, was es autorisiert oder nicht. Insofern ist die Autonomie nicht unbegrenzt. Das gemeinsame Abschlussexamen hält das System zusammen. Es gab Überlegungen, ob die Autonomie auf die Vergabe von Diplomen ausgedehnt werden sollte. Aber wir brauchen in Luxemburg ein Gerüst, das alles zusammenhält, sonst wird das Angebot unübersichtlich. Wir haben die Sekundarschulen aufgefordert, auch in außerschulische Aktivitäten zu investieren, um Chancengleichheit zu fördern. Im Prinzip haben wir 50 Posten zu vergeben, die wir an pädagogische Vorgaben binden. Außerdem geben wir im Rahmen der Schulentwicklungspläne Themenbereiche vor, wie die Inklusion oder Orientierung. Wenn wir da bedenkliche Tendenzen feststellen, können wir über diesen Weg gegensteuern. Schließlich gilt das Principe de proximité: Schüler haben ein Anrecht darauf, die nächste Schule an ihrem Wohnsitz zu besuchen. Schulen sind daher aufgefordert, sich Gedanken darüber zu machen, welche Schwerpunkte sie in ihrer Region für welche Bevölkerung und welchen Arbeitsmarkt anbieten.
Die soziale Spaltung bleibt der Dauerbrenner in unserem Schulsystem. Welche Ihrer Maßnahmen, meinen Sie, tragen dazu bei, die Segregation abzubremsen?
Eine große Säule ist die Diversifizierung des Schulangebots. Wir müssen von der Vorstellung wegkommen, dass ein Bildungssystem und ein Schulmodell für alle passt, und die, bei denen das nicht der Fall ist, sich dann eben quetschen müssen. Es ist eine Realität, dass immer mehr Eltern ihre Kinder ins Ausland und auf Privatschulen schicken. Darauf muss die öffentliche Schule Antworten finden. Sie kann das aber nicht allein. Sicher kann die Schule in punkto soziale Segregation besser werden. Wir haben Kindheit, Jugend und Bildung zu einem Ministerium zusammengelegt, weil wir überzeugt sind, dass wir so besser aufgestellt sind, um die großen sozialen Herausforderungen anzugehen: In den Kindertagesstätten geht es mit der Qualitätsoffensive nicht darum, Kinder nur zu verwahren, sondern ihnen ein stimulierendes Umfeld zu geben, in dem sie sich altersgerecht entwickeln, um später bessere Startchancen zu haben. Deshalb der Fokus auf die Sprachen, denn wer in der Familie diesbezüglich im Nachteil ist, ist schlechter gerüstet für ein Schulsystem, das stark auf Sprachen aufbaut.
Im Moment kann man den Eindruck gewinnen, die Diversifizierung des Schulangebots bedeute vor allem eine Vergrößerung englischsprachiger Angebote, um Arbeitnehmer aus dem angelsächsischen Raum zu gewinnen.
Unsere Motivation ist weniger wirtschaftlich begründet. Luxemburg braucht unterschiedliche Schulangebote, weil wir Schüler von unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Motivationen und Möglichkeiten haben. Ein Teil dieser Kinder und Jugendlichen hat eher eine Chance, die Schule in einem englischsprachigen System erfolgreich zu beenden. Ob das nun der junge portugiesische Zuwanderer ist, der in Portugal Englisch als Zweitsprache hatte, das Flüchtlingskind, das vielleicht eher Englisch spricht, oder Kinder aus angelsächsischen Ländern, deren Eltern nach Luxemburg kommen, um hier zu arbeiten. Sie alle haben ein Recht auf ein öffentliches Schulangebot.
Welcher Stellenwert bleibt da für die herkömmliche Dreisprachigkeit?
Man kann diese Diskussion unendlich lange führen. Die einen betonen, es sei wichtig, drei Sprachen, auf hohem Niveau zu beherrschen, darunter übrigens Englisch, um in Luxemburg Arbeit zu finden. Wir stellen jedes Jahr über 3 000 Zeugnisse für den Enseignement générale und den Classique aus. Die anderen bezweifeln, dass es Sinn macht, dieselben Sprachanforderungen an alle zu stellen, wenn später ein Großteil der Schüler an ihnen scheitert. Auch das ist eine Realität. Wir haben in Luxemburg viele Arbeitnehmer, die nicht perfekt dreisprachig sind, vielleicht nur eine Sprache beherrschen und trotzdem Karriere machen. Also haben beide Lager Recht. Wir können nicht alles unter einen Hut bekommen – und die Realität zeigt uns, es geht auch anders. Meine Aufgabe sehe ich darin, das System weiterzuentwickeln und allen Schülern eine Zukunftschance in Luxemburg zu bieten. Die Europäischen Schulen sind in dem Sinne ja keine Begrenzung, sondern stehen ebenfalls für Mehrsprachigkeit. Wir brauchen ein Schulsystem in Luxemburg, das so vielfältig ist und farbig wie seine Bewohner.
Am traditionellen Sprachenunterricht hat sich nicht so viel geändert: Eigentlich sollte eine Arbeitsgruppe ein Gesamtkonzept für die Sprachförderung von der Crèche bis zur Première entwerfen. Wo stehen wir da?
Im Kleinkindbereich ist viel geschehen. Wir haben dafür gesorgt, dass die Spaltung in Luxemburger, die in konventionierten Crèches vor allem Luxemburgisch lernen und ausländische Kinder, die in Privat-Crèches vorrangig Französisch lernen und dann später Schwierigkeiten bei der Alphabetisierung auf Deutsch bekommen, hinterfragt wird. Wir sind dabei, das gesprochene Französisch im ersten Zyklus spielerisch zu fördern. Außerdem soll das gesprochene Französisch in der formalen Bildung mehr Gewicht bekommen. Die Vorarbeiten sind fast abgeschlossen. Ich gehe davon aus, dass die neuen Materialien im nächsten Schuljahr eingesetzt werden können.
Nach Ihrem Rundgang durch die Sekundarschulen im Land haben Sie gesagt, dort sei viel in Bewegung. Aber hat sich die Unterrichtspraxis wirklich verändert?
Sie können mir sicher direkt eine Klasse zeigen, in der das nicht der Fall ist (lacht). Ich meine aber, dass die Digitalisierung dazu beiträgt, dass sich das Bild des Lehrerberufs wandelt. Fortbildungen am Weiterbildungsinstitut Ifen zu Methodentraining mit digitalen Medien erfahren den größten Zulauf. Es ist wichtig, den Prozess von unten zu unterstützen und nicht einfach etwas von oben überzustülpen, wie das beim ersten Reformentwurf zur Sekundarschulreform etwa im Hinblick auf das Tutorat der Fall war. Damit hätten wir positive Ansätze zerstört und die Motivation der betroffenen Lehrer gleich mit. Wir fordern die Schulen auf, sich in bestimmten Bereichen besser aufzustellen.
Wie viel Spielraum haben Lehrer, wenn unser Schulsystem so stark auf Prüfungen und Fachwissen setzt und nicht auf Entwicklungsgeist, Trial and Error und Spaß am Lernen?
Gute Unterrichtspraxis ist nichts, das wir in ein Gesetz schreiben können. Es ist ein Prozess, für den sich Schulen auf den Weg machen müssen. Wir haben ihnen mit dem Schulentwicklungsplan ein Instrument an die Hand gegeben, um dies zu tun.
Im Schulentwicklungsplan steht nichts zur Unterrichtspraxis.
Nein, aber Diskussionen hierzu werden sehr wohl geführt. Dabei hilft die Digitalisierung, die andere didaktische und pädagogische Möglichkeiten bietet und damit die Unterrichtspraxis beeinflusst. Außerdem fordern wir Schulen im Rahmen der Lehrmittelfinanzierung auf, sich Gedanken über adäquate Schulbücher und didaktische Materialien zu machen. Wenn der Staat ab nächstem Jahr die Kosten für Schulbücher übernimmt, müssen wir sicher sein, dass sie den pädagogischen Zweck erfüllen.
Braucht es nicht eine Generalüberholung der Programme, von der seit Jahrzehnten geredet wird, die aber nie kommt?
Immer wenn ein neuer Inhalt wichtig wird, besteht die Tendenz, ihn zum Bestehenden hinzuzufügen. Es ist systeminhärent, die Schule mit Ansprüchen und Inhalten zu überfrachten. Da müsste einmal aufgeräumt werden. Mit dem nationalen Programmrat und den Programmkommissionen haben wir uns Instrumente gegeben, hier einen Reflexionsprozess in die Wege zu leiten. Schulen und Programmkommissionen sehen allerdings tendenziell eher das Fach. Wir brauchen auch eine Debatte darüber, welches Fach und welche Inhalte wir tatsächlich benötigen. Wir lernen nicht Französisch, nur um Französisch zu lernen, sondern um uns in Luxemburg zu verständigen. Und wir lesen auch nicht nur Literatur um der Literatur willen, sondern um Texte zu analysieren und später unsere Verantwortung als Bürger und Beschäftigte wahrzunehmen.
Sie wollen einen übergeordneten nationalen Programmrat schaffen, in dem Vertreter der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft sitzen. Was versprechen Sie sich davon?
Im Programmrat werden zivilgesellschaftliche Akteure und Vertreter der Wirtschaft sitzen, sie sind wichtige Partner. Sie sollen einen externen Blick auf unser Bildungssystem werfen und so dazu beitragen, dass die Schule mit den gesellschaftlichen Entwicklungen besser Schritt hält. Den Einfluss der Wirtschaft sehe ich nicht so utilitaristisch, wie mir manchmal unterstellt wird. Ich verspreche mir vor allem eine andere Sichtweise und auch mal eine kritische Analyse jener Inhalte, die wir seit vielen Jahren in den Schulen vermitteln. Ich bin überzeugt: Hätten wir schon vor 15 Jahren einen solchen Rat gehabt, wären wir mit der Digitalisierung in unseren Schulen viel weiter.
Schulen sind wie schwere Tanker, sagen Bildungsexperten. Reformen brauchen deshalb viele Jahre, bis sie greifen. Auch Ihre.
Mir wird sicher niemand vorwerfen, ich hätte in den vergangenen vier Jahren zu wenig angepackt. Ich meine aber, dass man nicht alles von heute auf morgen ändern kann. Ein System wie das unsrige, das recht eng und rigide gefasst ist, wird auch durch komplette Freiheit nicht plötzlich mehr Innovation bringen. Wichtig ist es, die Schulen auf dem Weg ihrer Entwicklung zu unterstützen. Das tun wir.