Bildungspolitik wird hierzulande erst einmal immer als Sprachenproblem verstanden. Deshalb gehört zu den Reformen des liberalen Erziehungsministers Claude Meisch, dass der Beginn des Französischunterrichts in den Schulen um mehrere Jahre vorverlegt wurde. Kinder zwischen einem und vier Jahren sollen in den Tagesstätten mit dem Luxemburgischen und Französischen in Kontakt gebracht werden sollen, ab vier Jahren sollen sie dann schon im ersten Zyklus der Grundschule das Französisch „erkunden“. Ziel ist es, dass durch das mehrsprachige Bildungsangebot in den Tagesstätten und durch den Kontakt mit dem Französischen im ersten Zyklus fast hundert Prozent der Kinder in der Luxemburger Schule von Anfang an mehrsprachig werden. So stand es jedenfalls in einem Rahmenprogramm (S. 83) für den Sprachenunterricht in der Spielschule, die seit 2009 zusammen mit dem Précoce erster Zyklus der Grundschule heißt.
Dieses Rahmenprogramm Sprooch a Sproochen am éischte Cycle sollte den Lehrerinnen die neue Politik plausibel machen und ihnen Anweisungen geben, wie sie sie umzusetzen haben. Bemerkenswert war, dass diese 189 Seiten starke Schrift ganz auf Luxemburgisch verfasst war, was nicht nur dessen Stellenwert als Lingua franca betonen, sondern es auch als Schriftsprache für Sachliteratur aufwerten sollte – obwohl es nicht an Lehnübersetzungen aus dem deutschen Pädagogenjargon mangelte. Aber das im vom Erziehungsministerium herausgegebenen Courrier de l’Éducation nationale (November 2017) angekündigte Programm wurde nach einer Reihe von Kritiken wieder aus dem Verkehr gezogen und von der Internetseite des Ministeriums gelöscht – angeblich, um es noch einmal zu diskutieren.
Denn der Minister will es allen recht machen: den mehrsprachige Arbeitskräfte verlangenden Globalisierungsgewinnern und Unternehmern und ein wenig den eine Aufwertung des Luxemburgischen fordernden Globalisierungsverlierern und Nationalisten. An seinen Bildungsexperten ist es dann, aus der Fachliteratur die pädagogischen Theorien zusammensuchen, die seinen politischen Kompromiss wissenschaftlich untermauern. Bisher galt beispielsweise das Prinzip, dass zum Fremdsprachenerwerb zuerst die Muttersprache gefestigt gehört. Nun, da die Mehrsprachigkeit als eigentliche Landessprache entdeckt wurde, müssen die Neurowissenschaften beweisen, wie leicht Mehrsprachigkeit den Kleinkindern fällt und wie gut sie deshalb schon mit drei Jahren als flexible Kräfte für den Arbeitsmarkt abgerichtet werden können.
Der erste Zyklus der Grundschule spiele eine herausragende Rolle, hieß es in Sprooch a Sproochen, weil er der erste Abschnitt auf dem Schulweg sei (S. 97). Das Luxemburgische sei im ersten Zyklus die wichtigste Schulsprache und Sprungbrett für die spätere Alphabetisierung, auch wenn eine Mehrheit der Kinder zu Hause eine andere Sprache sprächen. Nun komme das Französische hinzu. Dass eingewanderte Kinder Luxemburgisch lernen müssen, wurde damit erklärt, dass sie eine gemeinsame Sprache zur Verständigung untereinander brauchen, aber auch damit schmackhaft gemacht, dass es eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit dem Schriftsprachenerwerb in deutscher Sprache spiele (S. 84). Da im folgenden Zyklus die Alphabetisierung auf Deutsch erfolgt, versuchte die Publikation zu erklären, weshalb trotzdem das Französische als zweite Sprache im ersten Zyklus gewählt wurde: Weil es der Lebenswirklichkeit vieler Kinder entspreche, damit die luxemburgischen Kinder sich weniger schwer mit dem Französische tun und weil es schärfer vom Luxemburgischen getrennt sei (S. 86).
Ausführlich beschrieb das Programm die Eckwerte, wie der Sprachenunterricht von den Fähigkeiten der Kinder ausgehen und diese positiv bewerten soll, ihre Bedürfnisse feststellen, sprachübergreifend ihren Umgang mit der Sprache und den Sprachregistern einbeziehen soll, die verschiedenen Lebensbereiche, wo sie sich aufhalten, sowie ihre Gesamtentwicklung berücksichtigen, kontextualisiert, handlungsorientiert, interaktiv und prozessorientiert sein soll. Auch wenn ein derart enzyklopädisches Programm manche Lehrerin abzuschrecken droht.
Um diese Eckwerte zu erreichen, wurden zahlreiche didaktische Prinzipien empfohlen, wie Flexibilität, die Berücksichtigung verschiedener Sprachmomente, der Wechsel von ein- und mehrsprachigen Momenten und die Wertschätzung der Erstsprache. Die Kommunikation soll größtenteils auf Luxemburgisch verlaufen, hinzu kommen dann zwei bis drei geplante Sprachaktivitäten pro Woche auf Französisch, wie Gespräche, Spiele, Gedichte, Geschichten. Dass Luxemburgisch den Normalfall und Französisch die Ausnahme darstellen soll, geht vom Standpunkt der luxemburgischen, nicht der französischen oder anderer Kinder aus.
In einer Einleitung fasste das Rahmenprogramm die bis heute mystifizierte Luxemburger Sprachgeschichte noch einmal zusammen und betonte, dass, im Gegensatz zu anderen mehrsprachigen Ländern, wie der Schweiz oder Belgien, der Einsatz der Landessprachen in Luxemburg nicht territorial, das heiße auf bestimmte Regionen reduziert sei, sondern nebeneinander, miteinander und gegeneinander eine gelebte Mehrsprachigkeit ausdrücke (S. 7). Aber in Wirklichkeit ist der Sprachengebrauch hierzulande nicht horizontal nach Landesteilen, sondern vertikal nach gesellschaftlichen Klassen und Schichten strukturiert, die alle ihre Sprache nutzen wollen, um ihre soziale Position zu verteidigen. Aber dies einzugestehen ist selbstverständlich politisch unmöglich, weil es das Ziel der Schule ist, gesellschaftliche Unterschiede zu reproduzieren. So bleibt das Sprachenproblem hierzulande weiterhin unlösbar.