Seit der Finanzkrise 2008 ist ein bedeutender Umbruch in der neoliberalen Ordnung der Weltwirtschaft zu beobachten. Einerseits werden zunehmend Handelsbarrieren aufgebaut, durch die Handelskonflikte zwischen China, der EU und den USA aktuell zu eskalieren drohen. Andererseits fördern viele Staaten über Steuerreformen einen weltweiten Standortwettbewerb, der die Globalisierung der Weltwirtschaft weiter antreibt.
Im Januar hat der amerikanische Präsident Donald J. Trump am World Economic Forum (WEF) im Schweizer Davos den Vertretern einer globalen Elite seine Wirtschaftspolitik präsentiert, die exemplarisch für das Spannungsfeld von Steuerwettbewerb und Protektionismus in der Weltwirtschaft steht. Die Haltung der Wirtschaftselite gegenüber Trump verortet sich entlang den Konfliktlinien in diesem Spannungsfeld.
Kaum eine Episode des aktuellen Zeitgeschehens illustriert diese Ambivalenz so eindrücklich wie das WEF, dessen diesjähriges Motto lautete: „Für eine gemeinsame Zukunft in einer zersplitterten Welt“. Ein Kommentator der Neuen Zürcher Zeitung interpretierte dies vor dem WEF als „breit gefasste Kritik am Kurs von Trump“1. In der Tat stehen die von der Trump-Regierung kurz vor Beginn des WEF beschlossenen Strafzölle auf Waschmaschinen und Solarzellen ebenso in der Kritik bei global operierenden Unternehmen wie die ein Jahr zuvor getroffene Entscheidung, aus dem Trans-Pacific Partnership (TPP) auszutreten. Die protektionistischen Maßnahmen in der Handelspolitik der Trump-Administration sind vielen Vertretern der Wirtschaftselite ein Dorn im Auge.
Umso überraschender erscheint es, dass ausgerechnet Donald Trump die Abschlussrede am diesjährigen WEF hielt. Mit seiner unverwechselbaren Mimik und Gestik sang der US-Präsident eine Lobeshymne auf seine eigenen Errungenschaften, die er mit immer weiteren Superlativen versah. Schließlich forderte er die Anwesenden auf: „Amerika ist der Ort, um Geschäfte zu machen. Also kommt nach Amerika, wo ihr Sachen erfinden, schaffen und bauen könnt.“2 Damit sprach Trump die Anfang dieses Jahres in Kraft getretene US-Steuerreform an, die unter seiner Führung durch die republikanische Mehrheit im Parlament beschlossen wurde. Die wohl größte Steuerreform, die die USA seit mehr als dreißig Jahren erlebt haben, besteht aus einer unbefristeten Senkung der Unternehmenssteuern von 35 auf 21 Prozent sowie einer temporären Senkung der Steuersätze bei der individuellen Einkommenssteuer.
Ein Großteil der Unternehmen mit operativem Geschäft in den USA wird zumindest langfristig von der niedrigeren Unternehmenssteuer profitieren. So verwundert es nicht, dass die Reform bei den Wirtschaftseliten auf breite Zustimmung stößt. Die am WEF von Trump angesprochenen Führungsfiguren der Weltwirtschaft wie Tidjane Thiam, CEO von der Großbank Credit Suisse, oder Siemens-Chef Joe Kaeser3 äußerten sich vor dessen Rede positiv zu Trumps Steuerpolitik. „Die US-Steuerreform ist genau das, was wir jetzt brauchen, um dem weltweiten Wachstum neuen Schub zu geben“, meinte etwa Thiam4.
Der beim WEF zur Schau gestellte Optimismus illustriert die situationsbedingte Positionierung der Wirtschaftseliten: Angesichts der langfristigen Senkung der Unternehmenssteuern ist man bereit, über die punktuellen protektionistischen Maßnahmen hinwegzusehen. Gerade das WEF steht symbolisch für eine Politik, die seit Jahrzehnten den Abbau staatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Standortförderung für multinationale Unternehmen fordert. Diese Politik treibt den internationalen Standortwettbewerb zwischen Regionen, Staaten und supranationalen Gebilden zusätzlich an. Dabei kann man am Beispiel der Schweizer Steuerpolitik beobachten, welche Auswirkungen dieser Wettbewerb auf eine Gesellschaft haben kann. Es kommt nicht von ungefähr, dass Steuerpraktiken, die große Unternehmen und vermögende Individuen begünstigen, in der Schweiz unter dem Begriff der „Tiefsteuerpolitik“ zusammengefasst werden.
Schweizer „Tiefsteuerpolitik“
Die föderalistische Eidgenossenschaft verfügt über ein Steuersystem, das den Kantonen eine im Vergleich zu den einzelnen Bundesstaaten in den USA große Autonomie gewährt. Im Kanton Graubünden, wo das WEF alljährlich stattfindet, liegen die Unternehmenssteuern beispielsweise unter 15 Prozent – das Schweizer Mittel beträgt 16,6 Prozent. Der globale Durchschnitt liegt bei 29 Prozent. Innerhalb der Eidgenossenschaft verfügen vor allem Zentralschweizer Kantone wie Nidwalden, Luzern, Schwyz und Zug über die niedrigsten Unternehmenssteuersätze, die allesamt zwischen zehn und 15 Prozent liegen.
So haben sich die Zentralschweizer unlängst einen Vorteil im nationalen und internationalen Steuerwettbewerb verschafft. Allerdings stehen sie auch in Konkurrenz zueinander und üben so gegenseitigen Druck aus. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Tiefsteuerpolitik und seiner effizienten Infrastruktur gilt Zug als leistungsstärkster Kanton der Schweiz. Als solcher macht er es insbesondere für die benachbarten Regionen in der Zentralschweiz schwierig, Unternehmen anzulocken, und verschärft somit den Standortwettbewerb.
Die Auswirkungen der geringen Unternehmenssteuern sind denn auch ambivalent: Einerseits verzeichneten Luzern, Uri und Schwyz letztes Jahr das höchste Wachstum bei der Zahl an Firmen auf Kantonsgebiet. Andererseits müssen gerade die Kantone Luzern und Schwyz seit Jahren bedeutende Einsparungen in ihren jährlichen Budgets vornehmen. In Luzern wurden seit 2013 die Mittel in den Bereichen Bildung, Kultur und Soziales in erheblichem Maße gekürzt. In Mittel- und Berufsschulen galt eine Woche Zwangsferien. Obwohl auch bei den Sozialabgaben rigoros den Rotstift angesetzt wurde, haushaltete Luzern 2017 über weite Strecken ohne Budget, in der Kantonskasse klafft ein 530-Millionen-Franken-Loch. Dieser Zustand ist politisch gewollt, wie es Armin Hartmann, Kantonsrat der rechten Partei SVP, darlegt: „Der budgetlose Zustand ist ein notwendiges Übel. Nur dann sind Korrekturen an der Finanzstrategie möglich.“5 Damit meint Hartmann aber nicht etwa eine Anhebung der Steuern, sondern weitere budgetäre Einsparungen. Die Luzerner Stimmbürger haben diese Politik zuletzt am 21. Mai 2017 wider Erwarten gutgeheißen.
Es liegt aber nicht allein an den tiefen Unternehmenssteuern, dass in Luzern, aber auch unter gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen in Schwyz und Zug, Sparmaßnahmen vorgenommen werden müssen. Die Halbierung der Unternehmenssteuern im Jahr 2012 auf rund zwölf Prozent hat den Kanton Luzern einerseits zwar tatsächlich wirtschaftlich gestärkt. Der Schweizer Mechanismus des nationalen Finanzausgleich (NFA)6 hat andererseits jedoch zu empfindlichen finanziellen Verlusten geführt. Denn obwohl jede kantonale Finanzbehörde große Freiheiten in der Ausgestaltung des jeweiligen Steuersystems genießt, wird ihnen durch den nationalstaatlichen Rahmen der Helvetischen Republik Grenzen gesetzt.
Durch den NFA erhalten wirtschaftlich schwächere Kantone Ausgleichszahlungen von den finanzstarken Kantonen – so wird die Schweiz in Geber- und Nehmerkantone eingeteilt. Während die Wirtschaftsmetropolen Basel, Genf und Zürich, aber auch Zentralschweizer Kantone wie Schwyz und Zug zu Ersteren zählen, befindet sich Luzern unter den Nehmerkantonen. Nach der Senkung der Unternehmenssteuer wurden Luzern die Beiträge aus dem „NFA-Topf“ jedoch gekürzt. Verschafft sich ein Empfängerkanton nämlich durch eine Steuersenkung einen Vorteil im interkantonalen Wettbewerb, wird er, salopp gesagt, durch verringerte NFA-Beiträge „bestraft“. Diese Einbußen konnten in Luzern bislang nicht mit zusätzlichen Steuereinnahmen durch zugezogene und neugegründete Firmen kompensiert werden.
Schwyz wiederum zählt zu den wirtschaftlich stärksten Kantonen und dementsprechend auch zur Gruppe der Geber. Im Gegensatz zu Luzern hat Schwyz seit den 1970er Jahren eine langjährige Politik der tiefen Steuern und geringen staatlichen Leistungen gefördert. Wegen seiner im nationalen Vergleich außerordentlich tiefen Steuersätze muss der Kanton aber zusätzliche Steuereinnahmen in bestimmten Fällen zu mehr als 100 Prozent in den NFA einzahlen. Wie die Winterthurer Tageszeitung Der Landbote berichtet, musste der Kanton Schwyz aufgrund der unerwarteten Einnahme von 62 Millionen Franken Steuergeldern durch eine neu hinzugezogene Firma sogar 65 Millionen zusätzlich in den NFA einzahlen. Denn der Betrag, den ein Kanton in den „Topf“ einzahlt, wird im Verhältnis zum gesamten vorhandenen Vermögen im Kanton berechnet. Nicht aber in Bezug auf die tatsächlich erhobenen Steuern. Somit führt der interkantonale Steuerwettbewerb im Kontext des NFA zu finanziellen Verlusten bei Geber- und Nehmerkantonen gleichermaßen – wie man an den Beispielen Luzern und Schwyz beobachten kann, mit teils weitreichenden Folgen für die Gesamtbevölkerung.
Standortwettbewerb und Harmonisierung
Die Schweizer Kantone stehen aber nicht nur in Konkurrenz untereinander. Sie sehen sich darüber hinaus einem internationalen Steuerwettbewerb ausgesetzt, der nun durch die Steuersenkung der Trump-Administration weiter angeheizt wird. Zwar liegen die Unternehmenssteuersätze in den USA nach wie vor weit über dem Schweizer Durchschnitt – dennoch ist auch in der Schweiz der politische Druck durch Wirtschaftsakteure gestiegen, die eine Steuerreform fordern, mit der die internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden soll. Der Steuerwettbewerb findet indes auch innerhalb der EU statt: Emmanuel Macron hat in Frankreich unlängst Steuersenkungen vorgenommen.
Gleichzeitig bestehen auf internationaler Ebene Bestrebungen, Länder mit Steuersystemen wie Luxemburg und die Schweiz zu verpflichten, ihre Gesetzgebungen an internationale Normen anzupassen. Die EU hat die Schweiz beispielsweise auf eine graue Liste der steuerlich nicht konformen Drittstaaten gesetzt. Dabei werden Kriterien angewendet, die auch auf einige EU-Staaten, wie zum Beispiel Luxemburg, zutreffen würden. Das Großherzogtum ist wiederum von den europäischen Institutionen dazu verpflichtet worden, 250 Millionen Euro Steuernachzahlungen von Amazon zu verlangen.
Hier lässt sich eine paradoxe Situation beobachten: Einerseits verschärfen Regionen, Staaten und supranationale Gemeinschaften mit Tiefsteuerpolitik den Standortwettbewerb, andererseits gibt es immer wieder neue Anstrengungen, die Auswüchse dieses Wettbewerbs zu minimieren. Auch hier kann ein Vorstoß zur Regulierung des neoliberalen Systems von Präsident Macron als Beispiel dienen: Zwar hat er Steuererleichterungen in Frankreich durchgesetzt, um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu stärken. Gleichzeitig strebt Macron eine Homogenisierung der europäischen Steuerpolitik an, um ebendiesen Wettbewerb einzudämmen.
Grenzenloser Wettbewerb?
In diesem Sinne kann man auf globaler Ebene beobachten, was sich in der Schweiz in kleinerer Dimension abspielt: ein Standortwettbewerb, der vor allem über Steuerpolitik betrieben wird, bei gleichzeitiger Sanktionierung als illegitim erachteter Steuerkonstruktionen. Während der nationalstaatliche Kontext der Helvetischen Republik dem interkantonalen und die EU-Richtlinien dem nationalen Wettbewerb jedoch einen verbindlichen Rahmen setzen, ist dieser auf globaler Ebene inexistent. Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass trotz diverser Anstrengungen, den globalen Steuer- und Standortwettbewerb einzudämmen, dieser seit seiner Entfesselung durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den 1980er Jahren unentwegt weiterbetrieben wird.
Gerade Kleinstaaten wie die Schweiz oder Kleinststaaten wie Luxemburg können durch eine Tiefsteuerpolitik große Profite einfahren. Im Rahmen des globalen Standortwettbewerbs sehen sie sich aber permanent dem Druck großer Mächte ausgesetzt. Wenn zudem eine Wirtschaftsmacht wie die USA in den Wettbewerb um die niedrigsten Unternehmenssteuern einsteigt, wird dieser Wettbewerb auf globaler Ebene empfindlich akzentuiert. Davon profitiert haben vor allem die multinational operierenden Unternehmen, welche die einzelnen Standorte gegeneinander ausspielen können. Die wirtschaftlichen Eliten entkoppeln sich zunehmend von den Lokalitäten, in denen sie operieren. Dabei gehen die tieferen Steuern mit geringeren staatlichen Leistungen einher, worunter breite Bevölkerungsschichten leiden. So hat die staatliche und private Verschuldung seit den 1980er Jahren weltweit zugenommen, ebenso ist die Einkommensschere stetig weiter auseinander gegangen – sogar in der Schweiz und Luxemburg, wo die Mittelschicht zunehmend unter Druck gerät.