Vorigen Monat hatte die Marktforschungsfirma TNS-Ilres 1 811 Leute nach ihr Wahlabsicht befragt, „wenn am Sonntag Wahlen wären“. Erstmals erklärte mehr als die Hälfte der Befragten, die liberale Koalition zu wählen, knappe 50,4 Prozent. Das überrascht nicht. In einer Krise wie der Corona-Seuche pflegen sich viele Wähler schutzsuchend der Macht an den Hals zu werfen, zuerst der Partei des Regierungschefs.
Auffallend ist das Ergebnis der CSV. Sie erzielte mit 27,5 Prozent der Stimmen das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Wie ist das zu erklären? Vielleicht malten sich die Befragten aus, wie die CSV in der Seuche regiert hätte, wäre sie nicht 2013 abgewählt worden.
Mitte März, als die Zahl der Infektionen rasch stieg und ein Lockdown unumgänglich schien, hätte sich Premier Jean-Claude Juncker wieder in seinem Griesgram verbarrikadiert und niemand sehen wollen. Freitag für Freitag wäre Familienministerin Marie-Josée Jacobs nach Capellen gefahren und hätte Frau Juncker durchs Küchenfenster angefleht nachzufragen, ob die Schulen, Baustellen und Friseursalons geschlossen gehörten. Aber stets hätte sie ohne Antwort heimfahren müssen.
Jean-Marie Halsdorf hätte niedergeschlagen in seinem Büro gesessen und jedes Mal den Atem angehalten, wenn er durch das Milchglas seiner Bürotür den Schatten einer seiner Beamten nahen sah. Die Vorstellung, er müsste entscheiden, was zu tun sei, hätte den christlich-sozialen Gesundheitsminister jeden Tag am ganzen Körper zittern lassen, bis der Schatten mit den neusten Infektionszahlen wieder verschwunden wäre.
Auf einem Cocktail-Empfang der ABBL, Laurent Mosar und Gilles Roth in der ersten Reihe, hätte Finanzminister Luc Frieden dafür plädiert, gerade in einer Krisensituation den untrüglichen Marktgesetzen zu vertrauen. Dann würden die Schwachen nicht mehr länger die Kranken- und Altersversicherung belasten, hätte er mit sorgsam einstudierten Handbewegungen unterstrichen. Dann erhielten die Starken eine Herden-immunität als willkommenen Standortvorteil im internationalen Wettbewerb.
Rasch wäre es nötig geworden, dass der Infrastruktur- und Nachhaltigkeitsminister medizinisches Gerät und Schutzmasken aus aller Welt herbeischaffte. Claude Wiseler hätte mit sanfter Stimme gemahnt, nichts zu überstürzen. Mit einem gewinnenden Lächeln hätte er versprochen, bis Pfingsten das Für und Wider zu prüfen. Der Europaabgeordnete Frank Engel wäre ihm zu Hilfe gekommen. Er hätte ihm per SMS zwei Container gebrauchte Atemschutzmasken aus Nordkorea zum Tageskurs angeboten.
Die Güterabwägung zwischen Glaubensfreiheit und Volksgesundheit wäre für einen erfahrenen Juristen wie François Biltgen ein Leichtes gewesen. Die Diözese hätte dankbar hervorgehoben, wie leidenschaftlich sich der Kultusminister trotz knapp werdender Intensivbetten und Beatmungsgeräte dafür einsetzte, auch dieses Jahr die Muttergottesoktave und die Echternacher Springprozession zu ermöglichen.
Das christlich-soziale Jahrhundert dauerte vom 6. November 1915 bis zum
20. Oktober 2013. Die Umfrage von TNS-Ilres zeigt, wie die Wähler es ohne Wehmut im Rückspiegel verschwinden sehen.