Glaubt man dem Premierminister, der Gesundheitsministerin und ihren Kollegen, gibt es ein Paradies mit dem zum Träumen einladenden Namen „Normalität“. Ein Virus hat die unschuldige Volksfamilie vor vier Monaten aus der Normalität vertrieben. Die Regierung verspricht, sie mit der Beendigung des Ausnahmezustands und der schrittweisen Lockerung der Kontaktsperren zurück ins Paradies der Normalität zu führen.
Eine liberale Koalition orientiert sich an einer Bilanz: der täglich gegen 17.30 Uhr veröffentlichten Summe der Erkrankten und Toten. Von ihr macht die Regierung die laut Gesundheitsministerin „flexible“ Öffnung und Schließung gesellschaftlicher Einrichtungen abhängig. Wie viele Kranke und Tote sie in Kauf nehmen will, damit die Restaurants und Baustellen offenbleiben, sagt sie nicht.
Die dominierenden Interessen der Exportwirtschaft benötigen den Sozialstaat. Nur er legitimiert die in ihrem Dienst stehende staatliche Herrschaft. Unter dem Schock der Seuche sah das nach konvergenten Interessen aus: Die Kurzarbeit und der Familienurlaub sorgen auf
Staatskosten dafür, dass der Produktionsapparat intakt bleibt, um nach der Krise durchzustarten. Gleichzeitig verhindern sie eine die staatliche Herrschaft gefährdende soziale Krise. Im Dekonfinement treten die Interessenwidersprüche wieder zutage.
Die Exportwirtschaft – der Finanzsektor und die Industrie – durfte all die Zeit ungehindert weitermachen. Die sozialdemokratischen Arbeits- und Gesundheitsminister verzichteten auf jede Auflage und jede Kontrolle, wie die Gesundheit der Beschäftigten in den Büros und Fabriken geschützt werden soll. Das Statut unique erwies sich wieder als Mogelpackung: Angestellte und Beamte durften schonend Heimarbeit erledigen; die Arbeiterinnen und Arbeiter mussten in Fabriken, Kaufhäusern und Privathaushalten, auf dem Weg zur Arbeit ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.
Der Mittelstand und die Bauindustrie, die im engen Kundenkontakt die Binnennachfrage bedienen, wurden dagegen lahmgelegt. Kurzfristig werden zahlreiche ihrer Einzelkapitalien vernichtet, um langfristig das Gesamtkapital zu retten. Hin und her gerissen, drängt die Mittelstandspartei DP auf eine rasche „Öffnung“ der Gesellschaft. Ihr Erziehungsminister beeilt sich, mit den Schulen als Beispiel voranzugehen. Doch die Bauarbeiter mussten als erste wieder ihre Haut zu Markte tragen. So werden jeden Monat 100 Millionen Euro Kurzarbeitsentschädigung gespart.
Im wiedergewonnenen Paradies der Normalität wird die Austerität blühen, um
2,5 Milliarden Euro Corona-Schulden umzuverteilen. Die Seuche soll ermöglichen, wozu Jeremy Rifkin nicht fähig war: auf breiter Front Kostensenkungen und Entsolidarisierung durch Heimarbeit durchzusetzen. „Trostlos“ fand der Mann in der Eisenbahn den Gedanken, „daß der Krankheit des Normalen nicht etwa die Gesundheit des Kranken ohne weiteres gegenübersteht, sondern daß diese meist nur das Schema des gleichen Unheils auf andere Weise vorstellt.“