„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, hat Theodor W. Adorno einmal überaus mehrdeutig formuliert und eröffnete damit eine Diskussion über ein grundlegendes Misstrauen in die Fähigkeit der Kunst sich den Gräueltaten, die unter dem NS-Regime in der Logik der Massenvernichtung begangen wurden, anzunehmen. Immer wieder begleitet die künstlerische Aufarbeitung des Holocaust die kontroverse Frage nach einem Bilderverbot; jeder Annäherung an eine Darstellung sei schon ein Moment des entwürdigenden Missbrauchs inhärent, das nur auf die Entweihung zielen könne. Die Ermittlung – das Theaterstück von Peter Weiss, 1965 uraufgeführt, ist ein monumentales Werk, das den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 künstlerisch nachzeichnete und verdichtete. Der Text des Stücks ist den Protokollen Bernd Naumanns entnommen, die sehr genau Tatbestände, Täter- und Opferrollen innerhalb der NS-Vernichtungsmaschinerie aufschlüsseln. Es war der erste bundesdeutsche Prozess, bei dem Deutsche über Deutsche richteten, nicht die alliierten Siegermächte. Der deutsche Regisseur RP Kahl hat den Stoff nun für den Film adaptiert – und ein ganz sonderbares wie eindringliches Werk zur Erinnerungskultur um den Holocaust, zwischen Film und dokumentarischem Theater, geschaffen.
Die Frage nach den Bildern muss RP Kahl umtrieben haben, dergestalt, dass er gerade sie zum Zentrum seines Films macht. Der Kunstgriff ist so schlicht, wie er bildgewaltig ist: Er bebildert nicht die Gräuel und die Unmenschlichkeiten von Auschwitz, er evoziert sie über die individuelle Vorstellungskraft. Das Vertrauen in die Imagination seines Publikums spiegelt Die Ermittlung zunächst in seiner Form: Überaus reduktionistisch vereint er in einem Filmstudio rund 60 Schauspieler, die die Protokolle abwechselnd in einer Art Theaterinstallation vortragen. Keine aufwändigen Kostümierungen, keine detailreichen Requisiten – nicht dem Naturalismus in der Darstellung gilt hier das Augenmerk, sondern der Abstraktion, der Verfremdung. Mikrofon, Podest, aufgereihte Stühle und neonfarbenes Hintergrundlicht bestimmen das äußere Erscheinungsbild. Dazu die befremdliche Sprache, das nachdrücklich Rezitative in der Sprechweise aller Beteiligten – all das macht aus Die Ermittlung einen ebenso beklemmenden wie eindringlichen und mitreißenden Film, der zuvorderst über die menschliche Sprache als Ausdrucksmittel funktioniert. Da gibt es den Zynismus der Lagerkommandanten, die Entrüstung der Opfer und Zeugen, den Zwiespalt der Mithelfer und es gibt die Ohnmacht der Richtinstanz einen Sinn in all dem zu finden. Die Ermittlung ist auch und besonders ein Film über das gesprochene Wort, wie es auf Anschuldigung drängt, aber sich auch in Entschuldigungsversuchen verlaufen kann. Aufmerksames Zuhören und analytische Konzentration treten anstelle des emotionalen Erlebens.
In einem filmhistorisch übergeordneten Kontext der Darstellungsweisen der Shoah im Kino lässt sich Die Ermittlung wohl am ehesten an der Schnittstelle zwischen Stanley Kramers Judgment at Nuremberg (1961), Claude Lanzmanns Shoah (1985) und Steven Spielbergs Schindler’s List (1993) situieren – von Kramer übernimmt er die illusionistisch-beschreibende Dimension, von Lanzmann die nüchternen Zeugenaussagen und auch die Frontalkamera als bevorzugtes Stilmittel, verzichtet aber auf den Originalschauplatz und fiktionalisiert seine Vorlage, ohne dabei aber den Grad von Spielbergs Film anzustreben, vielmehr verzichtet Kahl auf dessen dramatischen Effekt. Man sollte diesen außergewöhnlichen Film deshalb nicht übergreifend als abgefilmtes Theater betrachten – nichts wäre weniger richtig. RP Kahl umfährt sein oberflächliches Erscheinungsbild sehr geschickt: Zu eindringlich sind die überaus scharfen Großaufnahmen der Gesichter, in denen wir ansatzweise lesen sollen, in der beherrschten Mimik des Richters (Rainer Bock) oder noch des Staatsanwalts (Clemens Schick), zu präzise die subtilen Kamerafahrten, die den Zeugenstand, das Richterpult und die Anklagebank umkreisen, zu untermalend die pointierten Musikeinlagen. Dann die Montage: Sie verknüpft Großaufnahmen miteinander im Sinne des Wortgefechts und erreicht dabei eine intensive Form der unmittelbaren Nähe, die das Theater so nicht leisten kann und die letztlich in der Medienspezifik des Films begründet liegt. Unter diesem Aspekt der minimalistischen Theaterdekoration, die doch mit subtilen filmischen Mitteln angetrieben wird, erinnert Die Ermittlung ferner an Lars von Triers Dogville (2003) ohne aber in irgendeiner Form moralisierend oder emotionalisierend zu wirken.
Genrespezifisch betrachtet ähnelt Die Ermittlung noch am ehesten einem Gerichtsdrama über die Sezierung des systematischen Völkermords, aber nichts bei Kahl ist Dramatik, keine Zuspitzungen, keine Sympathielenkungen und: keine Einfühlung – weil Einfühlung in die KZ-Erlebnisse ohnehin nur in die Leere laufen muss. Sogar die „Spannungskurve“, von der Rampe bis zu den Gaskammern, die dem Gesprochenen eine Struktur geben, ist realhistorisch so vorgegeben. Der Untertitel Oratorium in elf Gesängen drängt bereits auf das Facettenhafte dieser Ermittlung, eine Steigerung der Unmenschlichkeit beobachtend, die auch Bezüge herstellt zur engen Verknüpfung zwischen NS-Tötungsmaschinerie, Wirtschaft und Sklavenarbeit – von Auschwitz zu erzählen, meint auch, immer neue Facetten offenzulegen, immer Neues dazuzulernen. Kahl inszeniert dies mit einer überaus eindringlichen Strenge. Sie verleiht diesem Film etwas ungemein Zwingendes: Es ist das entschiedene Hineinwerfen des Zuschauers in die stille Beobachterposition, der er sich nicht mehr entziehen kann – darin liegt die Intensität dieses Films, der beim Schauen weh tun soll, dessen Zugang man sich erarbeiten muss, über die belastende Drastik des Vorgetragenen, eine Drastik, die stört, die aufreibt.
Eigentlich rüttelt Die Ermittlung an den Wesenszügen des Kinos als Bildermaschine und überhöht es paradoxerweise zugleich: Kahls Film zeigt nicht über was er spricht, er beschreibt es und löst damit ein Kopfkino bei jedem Zuschauer aus. Er zeigt Auschwitz und zeigt es nicht. Die Leinwand weist über sich hinaus auf unzählige Leinwände dahinter. Und er setzt einen Bilderkatalog frei, der selbst wieder ein hochgradig filmischer ist: Man kennt die fiktionalisierten Schwarz-Weiß-Bilder aus Steven Spielbergs Schindler’s List, die bei aller Dramatisierung die sie betreiben auch einen dokumentarischen Charakter haben, weil sie die ikonisch gewordenen Originalaufnahmen, etwa das Eingangstor zu den Lagern, reproduzieren. Die wenigen zeitgenössischen Originalaufnahmen, die von Auschwitz existieren, setzt Kahl als Standbilder lediglich rahmend ein. Es ist so auch ein Film über die Grenzen des Zeigbaren. Da wo der moralische Streitpunkt erreicht ist, gewinnt die Verlagerung an Bedeutung. Es ist ebendiese Verlagerung, die Kahls Film so sonderbar und einzigartig macht. Nicht der Gerichtssaal an sich, wo sich die Absurditäten und die Kälte dieser Kriegsverbrechen a posteriori manifestieren, schiebt sich als Handlungsort wahrlich nach vorn – Kahl unterdrückt dies in diesem sehr antinaturalistischen Setting – sondern die Lagerstätte Auschwitz selbst. Es sind die Leerstellen, die Absenz, die seinem Film zur Wirkungsmacht verhelfen und zu einem wichtigen Baustein der Erinnerungskultur machen. Die Ermittlung eröffnet auf entschieden provokative und radikale Weise die Bildwelten jenseits des Darstellbaren, er setzt auf die Bilder hinter den Bildern. Auch das ist Kino.