Sabine Dörry trifft sich gerne zum Kaffee im Golden Bean in Belval. Die Forschungsbeauftragte (Senior Research Fellow) am Luxembourg Institute for socio-economic research (Liser) unerhält sich dort erst einmal angeregt mit der Bedienung, bevor sie ihren Kaffee zum Tisch trägt. Sie plaudert und scherzt auf Russisch – das hat sie in der Schule gelernt. Sie ist in der DDR aufgewachsen, und das hat ihren Parcours als Forscherin geprägt. Dörry, heute Anfang 40, hat in ihrer Heimatstadt Dresden Geografie auf Diplom studiert, was damals zwei Fächer im Nebenstudium voraussetzte. So studierte sie nebenher Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, beschäftigte sich viel mit Psychologie und mit Verkehrsingenieurwesen – beide Eltern seien Ingenieure, erklärt sie lachend – , so dass ihr sogar Straßenbau nicht fremd ist. Dass sie in so viele verschiedene Bereiche einen Einblick bekam, kommt ihr heute zu Gute, meint sie, weil sie Elemente miteinander verbindet, die auf den ersten Blick nicht unbedingt miteinander zu tun haben.
Die akademische Laufbahn schlug Sabine Dörry nicht absichtlich ein. „Ich wollte Geld verdienen und nicht in der Wissenschaft bleiben.“ Doch die Weltkonjunktur macht ihr einen Strich durch die Rechnung. „Ich habe voll in die Rezession studiert.“ Das passiert ihr nicht ein-, sondern quasi zweimal. Als sie ihr Diplom abschließt, beschleunigt sich die Subprime-Krise gerade und Dörry ergreift die Gelegenheit, in Frankfurt am Main ein Doktorat zu machen. Dabei untersucht sie die Wertschöpfungskette in der Tourismusbranche, wie sich KMU in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf der einen Seite und KMU in Jordanien auf der anderen Seite, denen die Mittel fehlen, sich gegenseitig zu verklagen, um Vertäge durchzusetzen und von ihren Geschäftspartnern nicht über den Tisch gezogen zu werden. Und stellte fest: Je größer der Tourismuskonzern in Herkunftsland der Touristen, desto kleiner die Entwicklungseffekte für die lokale Ökonomie im Zielland der Reisen. Der Finanzwirtschaft, heute Schwerpunkt ihrer Forschung, nähere sie sich mit dem gleichen methodischen Blick, mit dem sie damals die Wertschöpfungskette in der Tourismusbranche untersucht habe. „Um zu verstehen, wie Lokalitäten, also Finanzzentren durch die hochgradige Arbeitsteilung und Spezialisierung in dieser Wertschöpfungskette miteinander zusammenhängen.“ Zwei Jahre arbeitet sie nach ihrem Doktorat in Frankfurt als wissenschaftliche Mitarbeiterin, bevor sie sich 2010 um eine Stelle beim Liser-Vorgänger Ceps bewirbt. Diese Jahre, in denen sie in sehr prekären Verhältnissen lebt, auch die haben sie sehr geprägt.
Luxemburg ließ Dörry erst einmal staunen. Als sie den grenzüberschreitenden Bankverkehr mit Deutschland, Frankreich und Belgien untersuchte, ging ihr schnell auf, dass in Luxemburg, nicht größer als das Saarland, ganz anders Politik gemacht wird als im Flächenland Deutschland. Und noch etwas überraschte die Wissenschaftlerin, die nicht nur in Frankfurt gelebt, sondern nach dem Vordiplom ein Jahr lang in London verbracht hat, um Englisch zu lernen, und wo sie ihr Geld damit verdiente, Musical- und Operndarstellern für die Vorstellungen ihre Kostüme anzuziehen: „Als ich hier ankam, dachte ich mir: Das soll ein Finanzzentrum sein?“ Als Kind hatte sie Frankfurt am Main fasziniert, erklärt Dörry. „Weil es dort diese glitzernden Bürotürme gibt, die es in Dresden und in dieser Art auch in Berlin nicht gab.“ Türme wie in Frankfurt hatte sie auch in der Londoner City und in Canary Wharf gesehen, dem anderen großen europäischen Finazzentrum. Aber in Luxemburg? Fehlanzeige. „Es ist das Interesse für die Mechanismen, die es erlaubten, solche Türme zu bauen, die es im Sozialismus nicht gab“, antwortet sie auf die Frage, wie sich ihr Forschungsschwerpunkt auf die Finanzwirtschaft verlagert hat. „Diese Frage treibt mich heute noch an“, erklärt sie. „Warum gibt es ausgerechnet in den USA ein Sillicon Valley, wieso lässt sich das nirgendwo anders reproduzieren? Warum haben sich verschiedene Finanzzentren an bestimmten Orten entwickelt, und weshalb scheitern andere Städte mit ihren Versuchen, ähnliche Finanzzentren aufzubauen?“ In Luxemburg angekommen, begann Dörry, die sich selbst als begnadete Netzwerkerin bezeichnet, abends beim Bier die Leute zu fragen, was sie bei ihrem Arbeitgeber, der Depotbank oder der Buchprüfungsgesellschaft denn eigentlich genau machten, und fing damit an, die spezialisierten Funktionen in der Luxemburger Finanzwirtschaft und im Gefüge der globalen Finanzwertschöpfungskette zu entschlüsseln und das Puzzle zu ordnen.
Dörry, die nicht nur selbst forscht, sondern auch in Bonn und an der Uni in Belval lehrt, obwohl sie das nicht müsste – Finanzgeografie dort, die Grundlagen der Wirtschaftsgeografie hier – konnte den Sinn ihrer Forschung in Luxemburg nicht gleich jedem verständlich machen. Mit einem Forschungsprojekt, das der FNR ablehnte, erhielt sie das europäische Marie-Curie-Forschungsstipendium und dazu ein Fellowship in Oxford. Zwei Jahre arbeitet sie dort und in London, bevor sie nach Luxemburg zum Liser zurückkehrt.
Dort, sagt sie, habe sie den Grundstein für ihre heutige Forschung gelegt, in der sie sich mit der Frage beschäftigt, wie die zunehmende Finanzialisierung der Wirtschaft sich dort auswirkt, wo die Finanzwirtschaft angesiedelt ist. Welche Folgen hat die Finanzwirtschaft beispielsweise auf den Büroimmobilienmarkt, aber auch auf das soziale Gefüge? „Es gibt diesen abgedroschenen Satz: Die Finanzwirtschaft muss wieder in den Dienst der Realwirtschaft gestellt werden“, zitiert sie, was nach der großen Finanzkrise viele Politiker äußerten, um die Einstellung der aus dem Ruder gelaufenen Spekulation zu fordern. „Aber ganz konkret: Wie würde man das machen?“, fragt Dörry. Wie würde man diese Transition steuern, wenn eigentlich jedes Derivatprodukt erfunden wurde, um eine konkrete Transaktion in der Realwirtschaft abzusichern? Welche Folgen hat es für Städte, die hochspezialisierte Finanzzentren beherbergen, an denen diese Transaktionen abgewickelt werden, wenn sie eingedämmt werden sollen? „Das sind die Fragen, die ich diskutieren will“, sagt Dörry. Das sind hochrelevante Fragen, die sich in Luxemburg in den vergangenen Jahren durchaus stellten – im Rahmen der Abschaffung des Bankgeheimnisses beispielweise oder der internationalen Reform der Unternehmensbesteuerung. Wobei sich die Forschung und vor allem die Lehre bisher eher darauf beschränkten, neue Produkte und Arbeitsbienen für die hochspezialisierte Finanzbranche zu entwickeln und auszubilden.