Als vor einem halben Jahr ein Kleines ABC der Pseudonyme in Luxemburg erschien, griffen einige ältere Politiker, Journalisten und sonstige Interessierte hastig zu. Sie wollten endlich bestätigt bekommen, wer der „Luussert“ im Luxemburger Wort war, der vor 40 Jahren mit Messdienerhumor gegen die umso pikiertere DP/LSAP-Koalition polemisierte. Aber Autorin Nicole Sahl hatte sich mangels neuer Erkenntnisse darauf beschränkte, die üblichen Verdächtigen aufzuzählen.
So stößt selbst sie an die Grenzen ihrer Detektivarbeit – und das Pseudonymlexikon zeigt, wie sehr sie diese Detektivarbeit lieben muss. Denn Carlo Hurys Dictionnaire de pseudonymes d’auteurs luxembourgeois hatte 1960 gerade 17 Seiten, ihr Kleines ABC ist dagegen auf 351 Seiten angewachsen.
Das Werk zählt Pseudonyme Luxemburger Schriftsteller und Journalisten aus zwei Jahrhunderten auf, versucht, sie zu entschlüsseln und zu erklären. Dazu arbeitete sie die Datenbank der Literaturarchivs auf, forschte in Katalogen, Briefen, Erinnerungen und Zeitungsartikeln, um Querverbindungen herzustellen und auseinanderzubröseln, dass der „A.H.“ im Luxemburger Land Arthur Herchen, der „A.H.“ der Zeitung für kleine Leute Arthur Hary und der „A.H.“ der Cahiers luxembourgeois Albert Hoefler war.
„Ich bin keine Literaturwissenschaftlerin“, meint die Konservatorin am Nationalen Literaturzentrum in Mersch und forscht deshalb weniger über den Inhalt literarischer Werke. Sie selbst bevorzugt „Literatur, die erzählt“, früher einmal Maupassant, heute habe sich das geändert. Von Berufswegen liest sie ständig Luxemburger Literatur, Neuerscheinungen von Autoren, deren Eintrag sie im Luxemburger Autorenlexikon ergänzen muss.
Nicole Sahl kam „mit einem Umweg“ ins Literaturzentrum, wie sie erzählt. „Ich wollte immer etwas mit Büchern und Leuten machen, schon nach dem Abitur. Da lag es auf der Hand, dass ich zur Nationalbibliothek wollte. Aber ich bin keine Bibliothekarin. Ich hatte etwas mit Sprachen studieren wollen. Aber bloß keine Literatur. Denn mit Literatur konnte ich mir damals nur vorstellen, in den Unterricht zu gehen, und dazu hatte ich keine Lust.“ So studierte sie angewandte Sprachen, Englisch, Italienisch, in Avignon und Paris. Weil dieses Studium unter anderem von künftigen Übersetzerinnen belegt werde, lerne man auch etwas über die Wirtschaft oder das Rechtssystem in den verschiedenen Sprachräumen. Danach leitete sie das Luxemburger Fremdenverkehrsamt in Bonn, bevor sie aus privaten Gründen nach Luxemburg zurückkehrte, wo sie auch einen Sommer lang das Archiv des Lëtzebuerger Land organisierte.
„Als das Literaturzentrum eine Stelle ausgeschrieben hatte, entdeckte ich, dass das genau das war, was ich schon immer tun wollte.“ Dennoch verzichtete sie, weil ihre Kinder noch zu jung waren. „Dann schrieb das CNL drei Jahre später eine befristete Stelle zur Mitarbeit am Autorenlexikon aus, und ich sagte mir, dass ich die Gelegenheit nicht wieder verstreichen lassen konnte.“ So wurde sie Mitarbeiterin des Literaturzentrums, zuerst mit einem befristeten Arbeitsvertrag, danach bewarb sie sich erfolgreich um eine feste Anstellung.
Das von Claude D. Conter, Germaine Goetzinger, Gast Mannes, Pierre Marson, Roger Muller, Nicole Sahl, Sandra Schmit und Frank Wilhelm herausgegebene Luxemburger Autorenlexikon ist eine Leistung des Nationalen Literaturarchivs in Mersch, die es so in kaum einer anderen Kunst- oder Wissenschaftssparte hierzulande gibt. Auch „kein Privatverleger könnte die jahrelange Arbeit an einem solchen Werk bis zu seiner Veröffentlichung finanzieren“, meinte Nicole Sahl.
Das imposante Werk erschien 2007 im Eigenverlag des Literaturzentrums. 2010 folgte eine französische Übersetzung, Ende 2011 wurde das Nachschlagewerk schließlich zweisprachig ins Internet gestellt. „Die Internetversion war ein riesiger Fortschritt. Wir hatten gesehen, dass manche Einträge des Buchs bereits bei der Drucklegung überholt waren. Nun können wir nach Bedarf die Biografien der Autoren aktualisieren, ihre neusten Veröffentlichungen und die Kritiken dazu aufnehmen.“ Denn die Mannschaft des Lexikons recherchiert weiter, die Ergebnisse werden in Versammlungen diskutiert, dann werden die Neueinträge oder Ergänzungen fertig redigiert, übersetzt und schließlich eingespeist. Ob allerdings eine Neuauflage des Lexikons in Buchform erscheinen wird, ist zweifelhaft.
Weil das Luxemburger Autorenlexikon inzwischen 1 300 Einträge umfasst, mehr als manches vergleichbare Handbuch französischer, deutscher oder englischer Autoren, wurde es wiederholt als aufgeblähte Sammlung von Hobbydichtern kritisiert. Doch Nicole Sahl erzählt, dass 1 300 Einträge manchen noch nicht genug seien: „Wir bekommen immer wieder Beanstandungen von Leuten, die sich beschweren, weil sie nicht aufgeführt werden. Bloß dass sie die Auswahlkriterien nicht gelesen haben“. Zudem sei das Autorenlexikon im Grund eine Vorstufe zur seit Jahren angestrebten Abfassung einer Luxemburger Literaturgeschichte, die auswählen und werten soll.
Neben der Arbeit am Autorenlexikon arbeitet Nicole Sahl an Ausstellungen, Katalogen, anderen Veröffentlichungen und an der Beantwortung von Anfragen von Forschern und Studierenden mit. Sie könne sich gar nicht vorstellen, alleine in ihrer Stube zu arbeiten, ihr sei die Teamarbeit wichtig. Was ihr Spaß mache, sei Dingen nachzuspüren, Wissen zu vermitteln, „und dabei kann ich auch noch lesen“. Die Arbeit im Literaturarchiv stimuliere, weil sie „eine ganze Kette“ darstelle: Die Konservatorin könne Archivmaterial entgegennehmen, aufarbeiten, katalogieren und sogar auswerten. Sie müsse sich nicht darauf beschränken, Material für andere Forscher vorzubereiten.
Dass kaum eine andere Kultureinrichtung im Land so intensiv und anhaltend forscht, veröffentlicht und publiziert wie das Literaturarchiv, weiß Nicole Sahl nicht richtig zu erklären. Sicher spielten aber die Unabhängigkeit der Einrichtung und die Teamarbeit eine große Rolle. Die Begeisterung von Leuten, die ihre Leidenschaft zum Beruf machen konnten, sei einfach ansteckend.
Nicole Sahl ist aber überrascht, wie viele Leute über Luxemburger Literatur forschten, ohne nach Mersch zu kommen. Das hänge sicher auch damit zusammen, dass viele Forscher nur noch Material zur Kenntnis nähmen, das aus dem Internet abrufbereit sei. Aber es sei nun einmal unmöglich, jeden Artikel, jeden Brief, jedes Kärtchen so ausführlich zu beschreiben, dass die Suche in den Kartons und Aktenordnern des Archivs überflüssig werde. Zudem gebe es Texte und Bilder, die nicht ins Internet gestellt werden könnten, weil ihre Autorenrechte noch geschützt seien oder sie schützenswerte Privatdaten enthielten. Andererseits kämen ausländische Forscher in Kontakt mit dem Literaturarchiv, weil sie im Internet auf seinen Katalog gestoßen seien.