Weiße Farbe, strenge geometrische Formen und lichtdurchflutete Innenräume: Mitten auf dem Kirchberg, neben dem Auchan-Einkaufszentrum, liegt ein furioses Gebäude, das nach den Plänen des US-amerikanischen Architekten Richard Meier zwischen 1989 und 1993 gebaut wurde. Lange Zeit beherbergte es die Hypo-Vereinsbank. Heute dient es der Wissenschaft. Hier finden sich die Räume des Max-Planck-Instituts für Verfahrensrecht – genauer gesagt: die vorläufigen Räumlichkeiten. Denn irgendwann will man auf den neuen Campus ziehen, ein paar Tramstationen weiter.
Bis dahin erinnert die allumfassende Überwachung der Eingänge und der Außenseite des Gebäudes an die frühere Nutzung: Der Pförtner, hinter einem breiten brusthohen Loge sitzend, schaut auf vier Bildschirme, die jeweils rund zehn Kameraperspektiven zeigen. Das Haus ist innen so steril wie eine Bank. Kein Zettel, keine Ankündigung klebt irgendwo provisorisch herum; selbst die zur Mitnahme bereitgestellten Tageszeitungen liegen abgemessen akkurat auf einer Theke. Wie auf dem Campus Belval trifft man auch hier auf nichts Unerwartetes – obwohl gerade das ist, was Wissenschaft ausmacht: dass man auf etwas oder jemanden trifft, den oder dessen Gedanken man nicht erwartet hätte.
Im dritten Stock des Gebäudes jedoch folgt die Überraschung: Wo früher Geld verdient, gezählt und möglicherweise gewaschen wurde, arbeiten nun faszinierende Wissenschaftler wie Michel Erpelding. Der 34-jährige Luxemburger forscht in der Völkerrechtsgeschichte – und schreibt an einer weltweit einzigartigen Enzyklopädie mit, die das Internationale Verfahrensrecht systematisiert aufarbeitet. Geplant sind über tausend Artikel, die sich tiefgehend mit allen Aspekten beschäftigen werden, wie Gerichte Recht sprechen. Erpelding ist einer der peer reviewers, das heißt, er bewertet eingegangene Texte von Wissenschaftlern aus aller Welt, kommentiert und verbessert sie. Die Sprache der Enzyklopädie ist Englisch; die Zeiten, als man im Völkerrecht auf Französisch kommunizierte und veröffentlichte, sind passé. Zudem steuert Erpelding auch selbst Beiträge bei, vor allem zur Geschichte der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit.
Eines seiner Themen sind die gemischten Gerichte in Oberschlesien, die es zwischen 1922 und 1937 gab. Diesen Gerichten gehörten Polen und Deutsche gleichermaßen an, und gemeinsam sprachen sie in dem multiethnischen und multilingualen Gebiet Recht. „Das damalige Oberschlesien erinnert ein wenig an Luxemburg: viele Sprachen in einem Landstrich, der von zwei großen Nachbarländern umgeben ist“, berichtet Erpelding. Fast vergessen ist heute, dass in Oberschlesien erstmals Minderheitenrechte durch internationale Richter geschützt wurden. Das gab es in dieser Art vorher nirgendwo auf der Welt. Doch die Pionierleistung hatte keinen Bestand: „Der Ort mit den besten Institutionen, um individuelle Rechte zu schützen, verwandelte sich ein paar Jahre später zum Startpunkt des Zweiten Weltkriegs und der Entfaltung einer unfassbaren Tötungsmaschinerie.“ Vierzig Autominuten entfernt entstanden die Lager von Auschwitz.
Als Luxemburger ist Michel Erpelding prädestiniert, um über Oberschlesien zu forschen. Er versteht die historischen Dokumente und ist zugleich kein Deutscher. Deutsche Forscher hatten das Thema jahrzehntelang vernachlässigt, weil sie sich nicht dem Vorwurf des Revanchismus aussetzen wollten. Um Oberschlesien kümmerten sich die Vertriebenenverbände – die politisch nicht selten rechtslastig waren. Aber auch Erpelding hat schon Erfahrungen in dem politisch sensiblen Thema machen müssen, etwa, als ihn eine polnische Juristin auf einer Konferenz beschimpfte. Für die Kollegin waren die gemischten Gerichte eine Beschneidung polnischer Souveränität. Für Erpelding sind sie ein Beispiel funktionierender Zusammenarbeit.
Er forscht auch über andere Institutionen in Oberschlesien, die unter anderem erreichen konnten, dass die Nürnberger Rassegesetze dort bis 1937 nicht angewandt wurden. Auch die Propagandazeitung Der Stürmer durfte nicht erscheinen. Selbst die Nationalsozialisten akzeptierten also die besondere Situation der Region, freilich aus taktischer Überlegung und nicht aus Überzeugung. Doch all diese historischen Feinheiten wollen auch heutzutage manche nicht wahrnehmen. Vielleicht ist daher das kleine Luxemburg der beste Ort, um dazu zu forschen.
Im Herbst 2012 wurde das Max-Planck-Institut für Verfahrensrecht eröffnet. Seine Existenz verdankt das Institut dem Luxemburger Staat, der es vollständig finanziert. Ein Forschungsschwerpunkt ist das Recht der Streitbeilegung im internationalen Recht. Die Literatur in der öffentlich zugänglichen Bibliothek stammt aus vielen Ländern, auch wenn die Sprachen Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch dominieren. Erpelding bedauert, dass der Katalog noch nicht im „Bibnet“ integriert ist (www.a-z.lu), was eine automatische Suche über den international genutzten Karlsruher Virtuellen Katalog verhindert. Er wünscht seinem Institut und den 44 dort beschäftigten Wissenschaftlern eine noch bessere Sichtbarkeit. Wer sich heute mit Völkerrecht beschäftigt, reist zu Forschungen meist nach Den Haag, Heidelberg oder Genf. In dieser Reihe sollte irgendwann auch Luxemburg stehen. Und vielleicht gelingt das auch schon im nächsten Jahr, wenn die ersten Stichworte der Enzyklopädie ins Netz gehen.
Erpelding wird nicht dauerhaft beim Max-Planck-Institut bleiben. Seine Position ist zeitlich befristet, nur bis zum Jahr 2020 füllt er noch eine Postdoc-Stelle aus. Danach könnte er möglicherweise eine Professur in Frankreich anstreben. Seine an der Sorbonne (Paris I) erstellte, mit Bestnote bewertete und 2017 erschienene Dissertation über Sklaverei und Zwangsarbeit im Völkerrecht zwischen dem Wiener Kongress und dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde jedenfalls sehr wohlwollend aufgenommen. Inzwischen hat die Arbeit drei Wissenschaftspreise gewonnen.
Und sie steht auch in Kairo, wo Erpelding regelmäßig unterrichtet. Die Sorbonne unterhält an der Cairo University eine Niederlassung. Unterrichtet wird auf Französisch, die Studenten kommen vor allem aus Ägypten, aber auch aus dem frankophonen Afrika. In der 20-Millionen-Metropole fühlt sich der Luxemburger wohl. Sein Arabisch bezeichnet er als rudimentär, aber mit den Menschen auf der Straße könne er sich verständigen. In gewisser Hinsicht ähnele Kairo übrigens Luxemburg: massive Verkehrsprobleme und völlig unterentwickelte Planungskapazitäten im Urbanismus. Vielleicht sind beide Städte zu schnell gewachsen.
Erpelding kennt die Situation in Luxemburg-Stadt genau; er engagiert sich in kommunalen Räten, ist Delegierter für den OGBL und kandidiert für déi Lénk bei Wahlen. Er ist für den Schutz von Individualrechten, will aber das Eigentumsrecht auf das Maß zurückführen, das in allen anderen europäischen Ländern üblich ist. So steht im deutschen Grundgesetz, dass Eigentum verpflichte und dass Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit möglich sind. So etwas würde sich Erpelding auch für das Großherzogtum wünschen.
Gleichzeitig ist er pro-europäisch: „Wer raus aus der EU will, soll sagen, was danach kommt.“ Erpelding weiß, wie schnell sich eine Lage ändern kann: In Oberschlesien war damals auch nicht alles in bester Ordnung, aber Minderheiten wurden geschützt. Das Ende der gemischten Gerichte wurde von den Polen als Zeichen der Unabhängigkeit gefeiert. Wenig später tobte dort der Völkermord in seiner brutalsten Variante. Vor solchen Entwicklungen hat Erpelding Angst. Zweimal hat er in Ländern gelebt, die den Notstand ausgerufen hatten – nichts habe sich dadurch gebessert, weder in Ägypten noch in Frankreich. Aus dem Grund war Erpelding auch Initiator einer Erklärung gegen die Einführung des Notstands in der Luxemburger Verfassung. Diese Regelung könne eines Tages missbraucht werden, und sie schützte zugleich in keiner Weise vor Terrorismus. Davon ist Erpelding überzeugt, als Jurist, Rechtshistoriker und politisch denkender Bürger.