Unter ihrem liberalen Spitzendkandidaten wurde die CSV am Sonntag ein Stück weniger Volkspartei. Luc Frieden verkörperte ein Koalitionsangebot des modernen, globalisierten Finanzkapitals von Banken, Investitionsfonds und Big Four an ein konservatives Kleinbürgertum von Beamten, Selbständigen, Rentnern, an Landwirte, denen allen die liberale Regierungskoalition zu „modern“ war. Startkapital war das Versprechen von Steuersenkungen für alle.
Die Wechselbeziehungen zwischen den Stimmenanteilen der Parteien und der sozialen Lage in den 100 Gemeinden lassen sich berechnen: als Koeffizient auf einer Skala von +1,00 (völlig übereinstimmend) über null (kein Zusammenhang) bis –1,00 (völlig entgegengesetzt).
Danach wurde Luc Friedens CSV am besten in Gemeinden mit hohen Medianlöhnen gewählt (+0,35). Leicht mehr als die DP, die historische Partei der Besserverdienenden (+0,29). Die Volkspartei CSV samt LCGB schnitt in Arbeitergemeinden (–0,40) sogar schlechter ab als die Mittelstandspartei DP (–0,23). Der ehemalige Handelskammervorsitzende musste Kreide fressen, aber das Misstrauen blieb. Dafür gewann die CSV in jenen Gemeinden am meisten, wo die Grünen am meisten verloren (–0,28): Luc Frieden versprach, den Klimaschutz nicht zu übertreiben.
Innerhalb des bürgerlichen Blocks waren CSV und DP Konkurrentinnen: Die DP gewann am meisten, wo die CSV verlor – und umgekehrt (–0,41). Die DP kam 2013 als Partei von Ernst & Young und Atoz in die Regierung. In der Koalition mit Sozialdemokraten, beim Staatsinterventionismus in der Covid- und Erdgaskrise verblasste dieser Ruf. Nun haftet der CSV ein ähnlicher Ruf an.
Größer als der Lohnunterschied zwischen der Wählerschaft von CSV und DP war der Bildungsunterschied. Zwischen dem Anteil der Hochschulabsolventen und Meisterinnen bestand eine Korrelation mit den CSV-Resultaten von +0,24 und mit den DP-Resultaten von +0,50. Weil die CSV mehr Stimmen in kleineren Landgemeinden erhielt als die DP.
„C’est bien la classe sociale qui détermine le vote, à condition toutefois d’envisager cette dernière dans une perspective multidimensionnelle“ (Julia Cagé und Thomas Piketty, Une histoire du conflit politique, Paris 2023, S. 844). In Niederanven wohnen Leute, deren Medianlohn doppelt so hoch ist wie in Reisdorf. In Vianden wohnen fünf Mal mehr Arbeiterinnen und Arbeiter als in Weiler-zum-Turm. Der Anteil der Arbeitslosen in Esch-Alzette ist sieben Mal höher als in Bech. Eine multiple Regressionsanalyse zeigt, dass der Arbeiterberuf zu 50 Prozent die Wahlentscheidung bestimmt. Der Medianlohn zu 49 Prozent. Hochschuldiplome und Meisterbriefe zu 68 Prozent.
Die LSAP wird von Rechtsanwälten und höheren Beamten angeführt. Aber sie wurde am meisten in Gemeinden mit dem niedrigsten Akademikeranteil gewählt (–0,43). Ihre Notabeln wollen nach jeder Wahlniederlage das „A“ aus dem Parteinamen streichen. Doch die Partei wurde am besten in Gemeinden mit den meisten Arbeitern gewählt (+0,42). In den Arbeiterstädten des Südens und den industrialisierten Landstädtchen gibt es auch mehr RMG/Revis-Berechtigte (+0,32) und Arbeitslose (+0,40).
Am besten schnitt die LSAP in jenen Gemeinden ab, wo die Grünen am meisten verloren (–0,58). Eine negative Korrelation bestand auch zwischen den Gewinnen und Verlusten von LSAP und Piraten (–0,44).
Die LSAP wurde besser gewählt, wo der Medianlohn niedriger ist (–0,35). Sie ist die Partei der qualifizierten Arbeiter, der Angestellten, der Beamten der unteren und mittleren Laufbahn. Mit Paulette Lenert leistete sie sich eine rechte Technokratin als Spitzenkandidatin. Die zögerte bei jedem programmatischen Zugeständnis an die Arbeiterklasse.
Das ist möglich, weil das Wahlsystem nicht neutral ist. Es hat einen ausgeprägten Klassencharakter: Unter dem Vorwand der Staatsbürgerschaft schließt der bürgerliche Block die Mehrheit der Arbeiterklasse von den Wahlen aus. Sie stellt den größten Teil der halben Million Eingewanderten und Grenzpendlerinnen ohne Wahlrecht dar.
Von den Wahlberechtigten gaben am Sonntag 19,32 Prozent keinen gültigen Wahlzettel ab. Das entsprach dem Stimmenanteil von LSAP oder DP. Sie kamen nicht ins Wahllokal, sie verzichteten auf eine Briefwahl, sie gaben weiße oder ungültige Stimmzettel ab. Der Anteil der Nicht-Wähler war nicht gleichmäßig verteilt. Er war in größeren Städten bedeutender als in kleinen Landgemeinden (+0,43). In Gemeinden mit den meisten Leuten mit Oberstufen-Abschluss war der Anteil der Nicht-Wählerinnen am geringsten (–0,73).
Dort wo mehr Arbeitslose (+0,56), mehr RMG/Revis-Berechtigte (+0,41), mehr Leute mit Grundschulbildung (+0,39), mehr Arbeiter (+0,33) wohnen, war der Anteil der Nicht-Wähler dagegen größer. Wahlberechtigte der Arbeiterklasse, die in schwierigen Verhältnissen leben, machten wohl die Erfahrung, dass Wahlen nichts an ihren Lebensumständen änderten.
In ihren Auftritten machte die verbürgerlichte und radikalisierte ADR-Führung aus der Not der politisch und ökonomisch Sprachlosen eine Sprachenfrage. Die Partei erzielte ihre Resultate in jenen Gemeinden, wo der Akademikeranteil am niedrigsten ist (2013: –0,25; 2018: –0,35. 2023: –0,65). Oder dort, wo die meisten Leute mit Cinquième- oder Neuvième-Abschluss wohnen (2018: +0,21, 2023: +0,57). 2018 gewannen oder verloren CSV und ADR in den gleichen Gemeinden (+0,32). Am Sonntag waren die beiden Rechtsparteien Konkurrentinnen, ihre Resultate schlossen sich eher aus (–0,39).
Erstmals seit 1999 wurde die ADR wieder stärker als die Grünen. Die Wählerschaft der ADR war die Wählerschaft der Grünen mit umgekehrtem Vorzeichen. Die ADR wurde am besten gewählt, wo der Medianlohn am niedrigsten ist (–0,51, Grüne: +0,58), die meisten Arbeiter wohnen (+0,42, Grüne: –0,56), die meisten RMG/Revis-Berechtigten leben (+0,48, Grüne: –0,48). Es gelang der ADR, einen Teil ihrer an die Piraten verlorenen Wählerschaft zurückzugewinnen.
2018 entdeckten die Piraten die Sozialdemagogie, um der ADR Wählerinnen abspenstig zu machen. Im Wahlkampf 2023 griffen sie wahllos Wahlversprechen von links und rechts auf. Ihr Erfolg in der Arbeiterklasse nahm gegenüber 2018 ab. Sie wurden dort am besten gewählt, wo der Medianlohn am niedrigsten ist (2013: –0,32, 2018: –0,68, 2023: –0,37). Wo die meisten Arbeiterinnen wohnen (2013: +0,33, 2018: +0,65, 2023: +0,38) und die meisten Arbeitslosen (2018: +0,46, 2023: +0,22).
Die Grünen sind wie keine andere Partei diejenige der gehobenen Mittelschichten. Sie wurden am besten in Gemeinden gewählt, wo der Medianlohn am höchsten ist (+0,58). In den Schlafgemeinden nahe der Hauptstadt, wo Beamte, leitende Angestellte, Ärztinnen und Anwälte leben.
Entsprechend hoch ist das Bildungsniveau der grünen Wählerschaft: Die Wechselbeziehung zwischen den grünen Wahlresultaten und dem Anteil der Akademikerinnen und Handwerkermeister ist besonders eng (+0,72). Wo viele Arbeiter und Leute mit Grundschulabschluss wohnen, wurde entsprechend wenig grün gewählt (–0,56). Gleiches gilt für Gemeinden mit vielen RMG/Revis-Berechtigten (–0,48) und Arbeitslosen (–0,40).
Gemessen am Verhältnis zum Medianlohn wurde die grüne Wählerschaft in den vergangenen zehn Jahren exquisiter: 2013: +0,27, 2018: +0,43, 2023: +0,58. Weniger exquisite Wählerinnen mit Cinquième- oder Neuvième-Abschluss wandten sich dagegen von den Grünen ab: 2013: –0,29, 2018: –0,42, 2023: –0,61.
Die meisten Wähler befürworteten Klimaschutz. Sie empfinden ihn aber rasch als technokratisch und schikanös. Andere bekamen Angst, dass sie die Zeche für die Begrünung der herrschenden Wirtschaftsweise zahlen müssen. Sie wünschten sich, wie gerade überall in Europa, eine Pause in der ökologischen Transition. Deshalb wollten sie keine grünen Minister mehr. Die Grünen verloren in 100 von 100 Gemeinden Stimmen. Die Regierung verlor ihre Mehrheit.