Films made in Luxembourg

Wo der „Rechts-Staat“ jubiliert

d'Lëtzebuerger Land vom 23.11.2018

Hannah Arendt hätte SS-Führer Franz Murer wohl ähnlich wie einst Adolf Eichmann in ihrer Dokumentation seines Prozesses in Jerusalem als „Nobody“ bezeichnet. – Ein farbloser untersetzter Mann, Rädchen im Getriebe des NS-Systems, der folgsam Befehle „von oben“ ausführte. Nur, dass Murer sein Leben unbescholten mit seiner Familie in Gaishorn am See fristete und irgendwann friedlich verstarb.

Vilnius, einst bekannt als „Jerusalem des Nordens“, hatte eine jüdische Bevölkerung von 80 000 Einwohnern, die unter Murers „Zuständigkeit“ auf 600 Personen minimiert wurde. Von 1941 bis 1943 war er in der damals dem „Reichskommissariat Ostland“ eingegliederten Stadt als Stellvertreter des Gebietskommissars Hans Hingst „zuständig für jüdische Angelegenheiten“ und Leiter des Ghettos von Vilnius. In den Zeugenaussagen und Dokumenten der Nürnberger „Schau“-Prozesse, in denen einige NS-Größen exemplarisch verurteilt wurden, fiel Murers Name mehrfach im Zusammenhang mit Massenhinrichtungen in Vilnius.

Dort wurde er am 25. Oktober 1948 wegen der persönlichen Selektion von Juden – wobei er, gefürchtet als „der Schlächter von Vilnius“ für den Tod von über 5 000 Menschen verantwortlich gewesen sein soll – und wegen der Erschießung von zwei Jüdinnen vom litauischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, kam aber bereits 1955 wieder frei. Von der österreichischen Justiz wurde Murer nicht weiterverfolgt ... Bis 1962 Simon Wiesenthal den Fall neu aufrollte. Unter Widerständen kam es zu einer Verhaftung Murers und einem bizarren Prozess in Graz, der am 19. Juni 1963 mit seinem Freispruch endete. Die Grazer Blumenläden waren an dem Tag, an dem Franz Murer freigesprochen wurde, leergekauft. Sein Freispruch war ein Schlag ins Gesicht vieler Zeugen, Überlebender des Vilnaer Ghettos, die aus aller Welt angereist waren, um im Prozess gegen ihn auszusagen. „Der Fall gilt als eines der blamabelsten Beispiele dafür, wie die heimische Justiz mit Kriegsverbrechern verfuhr. Dennoch – oder gerade deshalb – hat er hierzulande keinen Platz im öffentlichen Gedächtnis gefunden“, so Regisseur Christian Frosch im Interview gegenüber der Wiener Tageszeitung Der Standard.

In Murer – Anatomie eines Prozesses, einer österreichisch-luxemburgischen Koproduktion (Prisma Film, Paul Thiltges Distributions), zeichnet Frosch den Prozess nach wie in einem Kammerspiel. Luc Feit wird in einem Video eingeblendet und faselt als verblendeter Wehrmachts-Offizier etwas über das Ghetto, „einen Staat im Staat“, in dem nun mal eigene Regeln galten, die ja letztlich auch die Juden mit zu verantworten gehabt hätten. Auf die Mit-Verantwortung der von den Nazis eingesetzten Juden-Räte an der Shoah war Hannah Arendt ebenfalls in ihrem Prozess-Bericht eingegangen. Frosch reißt das heikle Thema nur am Rande an und setzt leider auf klischeeüberfrachtete Rollen. So sieht man eine amerikanische Journalistin mondän Kette rauchend mit gerunzelter Stirn den Prozess beobachten, folgt das Auge gebückten Gestalten, wie sie sichtlich um Fassung ringend auf Jiddisch und Hebräisch ihre Erinnerungen preisgeben, und man spürt die Spannung im Gerichtssaal und den Hohn der Österreicher, als Murer am Ende trotz erdrückender Beweislast freigesprochen wird. Unter fadenscheinigen Gründen (die Farbe der Jacke Murers) werden die Beweise für nichtig erklärt; und während prominente Fürsprecher, unter anderem aus den Reihen der ÖVP, zu seinen Gunsten aussagen, werden Opfer zu Tätern, gerät die Gerichtsverhandlung zur Farce.

Bereits in den ersten Minuten des Films sieht man, dass es um ein Schauspiel geht. Da erhält Murer von seinem Anwalt den Rat, die abgewetzte Lodentracht zu tragen und auf keinen Fall seine Uniform. Damit, so der Anwalt, vermittle er harte Arbeit und Heimatgefühle. – Eine Strategie, die Erfolg hat, denn tatsächlich, so Frosch, stand mit Murer kein Einzelner, sondern ganz Österreich vor Gericht. Und es ging darum, das durch die Kollaboration mit dem NS-System beschädigte Nationalgefühl wiederherzustellen: „Österreich ist wieder frei!“

So edel die Intention des Regisseurs ist, folgt die Darstellung, vor allem die der Kläger, in weiten Teilen Klischees. Bemüht wird das Stereotyp des gebückten Shtetl-Juden. Als irgendwann auch noch die Metapher der rächenden, blutrünstigen Juden bemüht wird, untermalt durch die Aussage: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, will man den Kinosaal genervt verlassen.

So ist Murer ein ästhetisch und vom Ton her etwas verkorkster Film, der dennoch nachdrücklich zeigt, wie der Rechtsstaat in Österreich – auch in Ermangelung eines Fritz Bauer – versagte und der „Rechts-Staat“ jubiliert.

Murer. Anatomie eines Prozesses; Regie und Drehbuch: Christian Frosch; Kamera: Frank Amann; Schnitt: Karin Hammer; Musik: Anselme Pau; Ton: Gregor Kienel; Ausstattung: Katharina Wöppermann; Kostüm: Alfred Mayerhofer; Produktion: Prisma Film, Paul Thiltges Distributions; Produzenten: Viktoria Salcher, Mathias Forberg; Mit: Alexander E. Fennon, Karl Fischer, Roland Jaeger, Mathias Forberg, Melita Jurisic, Luc Feit, Marco Lorenzini. Österreich/Luxemburg 2018 / 137 Minuten / deutsch, englische, hebräische und jiddische Passagen französisch untertitelt. Läuft derzeit im Kino.

Anina Valle Thiele
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