ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Kleinstadt

d'Lëtzebuerger Land du 31.05.2024

Grevenmacher verschanzte sich länger als andere Ortschaften hinter einer Stadtmauer. Das Städtchen lebt vom Handel und Handwerk. Vom Weinbau: Winzer und Stadtnotabeln drücken ihren Töchtern ein riesiges Römerglas in die Hand und krönen sie zu Weinköniginnen. Die Arbeiter in der Industriezone Potaschbierg sind drei Kilometer entfernt. Drei Lichtjahre.

Léon Gloden stahl den anderen Ministerinnen und Ministern die Schau. Er wurde zum heimlichen Star der CSV/DP-Regierung. Er stammt aus Grevenmacher. Er war Bürgermeister von Grevenmacher. Sein Vater war Notar in Grevenmacher.

Bei Claude Chabrol gibt es den gierigen Notar Lavoisier, den hinterhältigen Arzt Morasseau, den niederträchtigen Metzger Filiol, den betrogenen Député-maire Delamare, den teuflischen Hutmacher Labbé. Sie tragen sprechende Namen. Die gelangweilten Ehefrauen sind heimtückische Opfer. Sie könnten alle Bovary heißen. Wie kein anderer führt Chabrol in ein verschwiegenes Reich am Ende der Landstraße: Wo eine Provinzbourgeoisie von Freiberuflern die Fäden zieht. Ihre ungeschriebenen Gesetze macht. An die sie sich selbst nicht hält.

Léon Gloden folgte den Fußstapfen seines Vaters. Studierte, wie sich Recht zu Geld machen lässt. Statt des Notarberufs wählte er den des Geschäftsanwalts. Mit 27 trat er der CSV und einer Steuervermeidungskanzlei bei. Ein Jahr später wurde er Gemeinderatsmitglied. 2007 wurde er Partner der Kanzlei. Zwei Jahre später Abgeordneter. Zwei Jahre danach Bürgermeister. Nun ist er Innenminister: Minister für die Provinz und die Polizei.

Claude Chabrol führte die Provinznotabeln vor, ihre Familiengeheimnisse, ihre unterdrückten Skandale, ihr Bemühen, den Schein zu wahren. „[S]i je dîne avec eux, je réalise que je n’aime pas ce qu’ils aiment: l’argent, les décorations“ (Libération, 13.9.95).

Die Provinzbourgeoisie liebt das Geld mehr als alles andere. Es misst eigenen Erfolg und fremden Misserfolg. Es rechtfertigt Vorrang als redlich verdient. Mitgefühl ist Verschwendung von Geld und Gefühl.

Laut Déclaration des intérêts financiers des députés häufte kein Deputierter so viel Geld an wie Léon Gloden. Er war Geschäftsanwalt, Abgeordneter, Bürgermeister, Mitglied von Verwaltungsräten. „Ich arbeite täglich 17 Stunden“, erzählte er reporter.lu, „mehr als 80 Stunden pro Woche“ (3.1.22).

„Malo hic esse primus quam Romæ secundus.“ In der Kleinstadt herrscht nicht die Diktatur des Proletariats, sondern des Kleinbürgertums. In ihrer rücksichtslosesten Form. Als Law and Order der Besitzenden. Der soziale Druck in der engen Welt, das enthemmte Machtgefühl befeuern die Grausamkeit: Gegen die Schwächsten, die Ärmsten, gegen Bettler, Obdachlose.

Gleichzeitig leidet der Kleinbürger an der Provinz: Er fühlt sich randständig, geringgeschätzt. Er sehnt sich nach dem Zentrum der Aufmerksamkeit. Für Chabrol ist er „un être pour qui possession vaut titre. Ça implique une volonté de paraître, des tas de choses absolument immondes“ (Libération, 13.9.95).

In einem Facebook-Video Een Dag ënnerwee mam Innenminister macht sich Léon Gloden als rastloser Erfolgsmensch wichtig. Wie er in einer „déck däitsch Limousine“ (100,7, 13.12.23) im Innenhof des Ministeriums vorfährt. Wie er stolz erzählt, welch „spannenden Job“ er nun hat. Dass er bisher drei Berufe gleichzeitig ausübe. Wie er immer nur „ich“ sagt. Nie „wir“.

Bescheiden sind nur die geistigen Ansprüche von Provinznotabeln. „[J]’ai vu deux films que je continue à regarder“, erinnerte sich Gloden (virgule.lu, 21.2.18). „Il y a eu ‚Les Bronzés‘ et le film qui m’a vraiment surpris: ‚Les visiteurs‘. [...] Je ne lis pas tellement de bouquins mais je lis chaque semaine Le Point ou Capital“.

Romain Hilgert
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