Miss Sara Sampson

Die Liebe in Zeiten des Gotthold Ephraim

d'Lëtzebuerger Land vom 14.10.2004

Warum sollten Sie sich, lieber Leser, liebe Leserin, das Stück Miss Sara Sampson von Gotthold Ephraim Lessing im Kapuzinertheater ansehen ? Zu 1/ Gotthold Ephraim Lessing, vor 275 Jahren als Pastorssohn in Sachsen geboren, ging in die Theatergeschichte als der große Erneuerer des deutschen Schauspiels ein. Als Lehrer oder Student wird Ihnen die Miss Sara Sampson als das erste bürgerliche Trauerspiel im Lehrbuch begegnet sein. Damals, im 18. Jahrhundert, war das Drama - im Gegensatz zur Komödie - dem Adel vorbehalten. Im Rahmen des Trauerspiels brachte Lessing zum ersten Mal bürgerliche Charaktere auf die Bühne, mit deren Themen und seinen eigenen Moralvorstellungen. Zu 2/ Die Geschichte der Miss Sara Sampson ist eine gute. Eine Geschichte, die noch heute dem Plot eines Hollywoodstreifens genügen könnte: Dem Hallodri Mellefont bietet sich in der Person der tugendhaften Sara Sampson die Möglichkeit, seinem lasterhaften, unsteten Leben eine Wende zu geben. Er flieht mit seiner jugendlichen Geliebten in einen Gasthof nach Frankreich, wo das Paar von Saras possessivem Vater als auch von Mellefonts früherer Gespielin Marwood sowie der gemeinsamen Tochter aufgespürt wird. Das Trauerspiel nimmt seinen furchtbaren Lauf: Die hinterhältige Marwood nutzt die Wirren der Auseinandersetzungen und entledigt sich ihrer Konkurrentin durch grausamen Meuchelmord. Ob der großen Schuld, die er auf sich geladen hat, begeht der geläuterte Mellefont Selbstmord. Zu 3/ Das 1755 geschriebene Trauerspiel ist schwere Kost für zeitgenössische Theaterregisseure. Miss Sara Sampson gilt als verstaubter, schwer zu inszenierender Klassiker. Tatsächlich ist die "Miss", im Gegensatz zur spritzigen Minna von Barnhelm oder der exzessiven Emilia Galotti, eher selten auf deutschsprachigen Bühnen anzutreffen. Es bedarf schon der Genialität eines Andreas Kriegenburg (so gesehen im Hamburger Thalia), um das heutige Publikum für den sperrigen Stoff zu begeistern. Für den Luxemburger Regisseur, Autor und Schauspieler Jean-Paul Maes hängen die Trauben der deutschen Klassik zu hoch. Diese völlig missglückte Inszenierung kann den Ansprüchen eines professionellen Theaters eigentlich nicht genügen. Die Schauspieler, Deutsche und Luxemburger, irren mehr oder minder kopflos durch die Szenerie. Sie bemühen sich redlich. Sie quälen sich mit steifer Textrezitation. Sie umspielen die Hindernisse des Stücks und des Bühnenbildes. Sie vermitteln den Eindruck, als ob sie den Sinn des Dargebotenen nie wirklich durchdrungen hätten. Zu 4/ Miss Sara Sampson handelt von verschmähter Liebe und erlebter Leidenschaft, von einem zerreißenden Vater-Tochter-Konflikt, von den verqueren bürgerlichen Liebesspielen in Zeiten des Gotthold Ephraim und schließlich auch von einem tragischen Lebensende. Die Gefühle müssten nur so überschwelgen. Zu Zeiten des alten Lessings war das auch der Fall. Man erzählt, dass die Zuschauer, zu Tränen gerührt, dem Autor stundenlang Applaus zollten. Bei der Maes-Inszenierung dagegen will kein Gefühl aufkommen. Allzu angestrengt muss der Zuschauer dem Schauspiel lauschen. Und wenn der Ausdruck fehlt, greift die Regie auf die Tricks des guten, alten Dorftheaters zurück: Man kopuliert auf der Bühne oder rennt kreischend von hüben nach drüben. Mit Verlaub: Sie müssen ein recht langweiliges Leben führen, um dieses traurige Spektakel als unterhaltsam zu empfinden. Zu 5/ Die Behauptung des Programmheftes, Lessing sei "ungebrochen aktuell", ist schon etwas abenteuerlich. Was vor fast 250 Jahren neuartig war, ist doch wohl heute einigermaßen überholt. Der Text an sich ist mehr als antiquiert. Die Geschlechterrollen der damaligen Zeit, die Moral- und Wertvorstellungen sind aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar. Nur mit einer konsequent modernen und intelligent durchdachten Inszenierung kann man dem Publikum den inneren Zwiespalt des Tunichtguts Mellefont oder der naiven Miss sowie den gesamten Kontext dieses interessanten Werkes nahe bringen. Doch wenn der heillos überforderte Marcel Heintz bei seiner toten Tochter kniet, ist der Zuschauer eher gerührt wegen des schlechten Spiels als wegen des bewegenden Dramas. Zu 6/ Was könnte man dagegen einwenden?

Miss Sara Sampson von Gotthold Ephraim Lessing ist noch heute abend, sowie morgen, 16. und am 21. Oktober 2004 um 20 Uhr sowie am 20. Ok-tober um 18.30 Uhr im Kapuzinertheater zu sehen. In einer Inszenierung von Jean-Paul Maes, mit Pia Röver, Edda Petri, Steffen Häuser, Marc Sascha Migge, Marcel Heintz, Christiane Rausch und Rosalie Maes.

Anne Schroeder I
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