Am 4. Dezember randalierten Impfgegnerinnen und Covid-Leugner in der Hauptstadt. Die paar Streifenpolizisten hatten erwartet, wieder mit den Yoga-Moms der Marche blanche spazieren zu gehen. Die Regierung identifizierte eine neue Covid-Variante: „D’Polariséierung vun engem Deel vun onser Gesellschaft, Här President, ass e Virus“, klagte Premier Xavier Bettel drei Tage später in der Kammer. Deshalb sollen Regierung und Parlament „e gemeinsame Plang ausschaffen, mat deem ee géint d’Polariséierung a mat deem ee géint d’Radikalisiéierung wëllt virgoen“.
Die Randalierer waren auf den Geschmack gekommen. Doch am folgenden Wochenende verteidigten Ninjas der Polizei ihr Gewaltmonopol. Xavier Bettel drohte auf Facebook: Angesichts der „Polariséierung an der Radikaliséierung“ werde man „mat der Ënnerstëtzung vun Experten aus dem In- an Ausland – en Aktiounsplang ausschaffen, fir dëse Problem an de Grëff ze kréien“.
DP, LSAP und Grüne bezweifeln die Effizienz der Demokratie. Sie ergänzen sie um Sozialtechnik. 2016 beschlossen sie drei neue Einrichtungen: Das liberale Schulfach Vie et société ersetzt den konservativen Religionsunterricht. Es soll ein kulturalistisches Gesellschaftsbild verbreiten. Das Zentrum für politische Bildung ist der Bundeszentrale für politische Bildung nachempfunden. Sie sollte die Deutschen entnazifizieren. Respect.lu wurde nach dem Vorbild ausländischer Einrichtungen zur „déradicalisation“ gegründet. Das klingt wie „dératisation“.
Die DP hieß vor dem Krieg unter anderem Radikale Partei. Als Radikalliberale Partei gehörte sie von 1932 bis 1938 der Regierung an. Radikal galt als grundsätzlich, geradlinig, unbeirrbar. So polarisierte sie den Interessenkonflikt zwischen Mittelstand und Schlotbaronen.
Heute gilt eine neue Topografie: Auf einem Liniensegment gibt es eine Mitte m, in der sich alle Parteien drängeln. Das „m“ steht für Marktwirtschaft, Menschenrechte und Mülltrennung. Wer knapp von der liberalen Mitte abweicht, wird als populistisch getadelt. Wer sich weiter davon entfernt, wird als radikal verteufelt. Die symmetrische Konstruktion hat den Zweck, Linke und Rechte in einen Topf zu werfen. Zusammen mit religiösen Fanatikern, die nicht mehr so genannt werden, sondern Radikalisierte.
Eine neue Quantität und eine neue Qualität machen nun einen Aktionsplan nötig. Der damalige Minister für innere Sicherheit, Etienne Schneider, hatte am 10. Januar 2015 bei RTL geschätzt: „Mir wäerten zwou Handvoll Leit hunn, déi [e] Risiko vun der Radikaliséierung hunn.“ Statt zwei Handvoll hält Premier Bettel vielleicht hundert oder mehr unter den Tausenden von Corona-Demonstranten für radikal. Impfgegner und Corona-Leugnerinnen sind keine an den Rand der Gesellschaft gedrängten Muslime. Sie sind Christenmenschen und Veganinnen aus der Mitte der Gesellschaft.
Wenn die Hygienevorschriften, die Klimaveränderungen oder die Vermögensunterschiede zunehmen, sinkt das Verständnis für ihre politische und ökonomische Notwendigkeit. Dann schwindet der Glaube an die Eintracht der katholischen Volksfamilie und liberalen Sozialpartnerschaft. Dann sollen die 2016 beschlossenen „appareils idéologiques d’État“ prophylaktisch jene Aufgaben erfüllen, die Ninjas erledigen, wenn der Service de renseignement versagt.
Auf der Internetseite von Respect.lu wird als radikal ausgemacht, wer „expériences d’exclusion et de discrimination“ erleidet und als Ursache dafür nicht pflichtbewusst persönliches Versagen, sondern zum Beispiel „le système capitaliste monopoliste“ ausmacht. Statt der Beseitigung ihrer gesellschaftlichen Ursachen soll die Radikalisierung als private Krankheit behandelt werden.
Nächstes Mal ruft TNS-Ilres wieder an und fragt nach dem „Vertrauen in die Institutionen“, also nach der Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen. Dann hält man es besser mit Jean-Claude Juncker und lügt.