ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Der öde Handel

d'Lëtzebuerger Land du 10.12.2021

Die landläufige, parlamentarisch vermittelte Regierungsweise „mittels der großen Massenparteien“ muss „Kleinbürgern und Bauern, sie muß auch der Arbei­terklasse zeitweilig Zugeständnisse machen“. Das hatte der klügste der Sozialdemokraten, Otto Bauer, beobachtet (Zwischen zwei Weltkriegen?, Bratislava, 1936, S. 169). Die Zugeständnisse an widersprüchliche Interessen haben ihren Preis: „Jedes Interesse kann sich nur in Kompro­missen mit gegensätzlichen Interessen, jedes Prinzip nur in Kompromissen mit gegensätzlichen Prinzipien durch­setzen.“ Damit es durchgeht, muss auch das hehrste Prinzip sich „abschwächen, abschleifen, relativieren“.

Der Kompromiss galt als Seele des „Luxemburger Modells“. Er endet laut Bauer in „eine[r] Atmosphäre, in der gegensätzliche Prin­zipien als relativ gleichberechtigt angesehen werden; einer Atmosphäre des Opportunismus“. Etwa beim relativ gleichberechtigten Umgang der Regierung mit den Prinzipien von Anthroposophen, Homöopathinnen und anderen Impfgegnern.

Otto Bauer schrieb von einem „krämerhafte[n] Utilitarismus, der, jede grundsätzliche Auseinandersetzung scheuend, das ganze öffentliche Leben in öden Handel um Steuern und Sozial­lasten, Zölle und Produktionsprämien auflöst“. Diese Reduzierung „ist die Grundhaltung ihrer herrschenden Klasse, die keine Ideale mehr zu verwirklichen hat, weil ihre Ideale schon ver­wirklicht sind“. Ihre Grundhaltung färbt auf die anderen Klassen ab. (Als hierzulande herrschende Klasse hätte Bauer genannt: die über lokale Kompradoren vermittelten Inhaber weltweit zirkulierenden Finanzkapitals, die durch lokale Statthalter vertretenen Aktionäre der Exportindustrie.)

Weil die Ideale der herrschenden Klasse bereits verwirklicht sind, ist es zweitrangig, welche der Massenparteien CSV, LSAP oder DP gerade regieren. Umso härter trifft es die Parteien, dass ihr politisches Kleingeschäft seit bald zwei Jahren unterbrochen ist. Die Covid-Seuche hat den „öden Handel um Steuer[reformen] und Sozial­lasten, Zölle und Produktionsprämien“ ausgesetzt.

Ohne den öden Handel und die Hoffnung auf seine Kompromisse fühlen sich viele Wählerinnen und Wähler verraten. Sie wissen nicht, wohin mit ihrer Ablehnung der liberalen Koalition. Der misstrauischste Teil geht schweigend oder randalierend auf die Straße. Die Leitartikler fallen aus allen Wolken. Sie entdecken eine „Spaltung der Gesellschaft“.

Ein anderer Teil sucht neue Fürsprecherinnen. Luxemburger Wort und RTL veröffentlichten vergangene Woche Ergebnisse ihrer halbjährlichen Wählerbefragung: Die CSV verlor gegenüber den letzten Wahlen 7,3 Prozentpunkte Zustimmung. Piratenpartei und ADR gewannen zusammen 7,2 Prozentpunkte. Die Piratenpartei wird gerade staatstragend. Die ADR wieselt nach rechts. Den einen Wählerinnen ist die CSV zu dumm geworden, den anderen Wählern nicht rechts genug. (DP, LSAP und Grüne verlieren zusammen 0,5 Prozentpunkte. Das ist weniger als die Fehlerquote.)

Die Unterbrechung des öden Handels verstört auch die Politiker. Der Finanzminister, der Arbeitsminister und der Landwirtschaftsminister haben vergangene Woche ihren Rücktritt angekündigt. Ihre politischen Ziele sind ihnen abhandengekommen. Sie können genauso gut aufhören. Im Grunde könnten die meisten Minister aufhören. „Systemrelevant“ ist bloß noch die Gesundheitsministerin. Das bestätigen ihre Sympathiewerte in Meinungsumfragen. Weil der öde Handel abgesagt ist, bekleidet eine Technokratin das Amt. Sie darf als Politik verkünden, was ihre Verwaltung beschlossen hat. Deren Prinzipien sind im Zweifelsfall die Staatsräson.

Der letzte politische Gedanke der zurücktretenden Minister gilt dem Kalender: Sie wollen ihren Nachfolgern bis zu den Wahlen Zeit lassen, sich bei RTL bekannt zu machen. Die Regierung spekuliert darauf, nächstes Jahr den Viren Herr zu werden. Dann könnte der öde Handel für den Wahlkampf ’23 durchstarten.

Romain Hilgert
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