Die kleine Zeitzeugin

Daheim ist, wo es weh tut

d'Lëtzebuerger Land vom 26.06.2020

In Flugzeugen, die „Prince Louis“ hießen und wo die Stewardessen, heute profan Flugbegleiterinnen genannt, einem Bojuer zuflöteten, konnte nichts geschehen. Sofort stürzte ich mich auf Luxemburger Tageszeitungen, vor allem auf die, die in meiner Kindheit Die Zeitung hieß. Sie hatte die besten Todesanzeigen. So ein Heimatfeeling stellte sich ein, so glühte ich vor.

Dann fiel ein Luxemburger Flugzeug mit einem Luxemburger Künstler aus dem Himmel. In den Todesanzeigen tauchten allmählich andere Namen auf. Die Vornamen meiner Generation. Ich las keine Todesanzeigen mehr im Flugzeug.

Heimat ist da, wo dir die Todesanzeigen etwas sagen, schreibt Ottfried Fischer. So eine tödliche Heimat wird man nicht so schnell los. Man hat sie in sich, ziemlich tief, ziemlich abgrundtief tief; da man kann sich noch so sehr abrackern, sie zu begraben. Immer wieder ersteht sie auf und bespukt eine. Sie ist ein Phantom. Sie ist total lebendig. Das Allerlebendigste. Moien, sagt sie. Moien!, sagt mein Mund.

Da kann man sich noch so sehr bemühen, auf anderen Bildoberflächen zu wandeln. Sich vielleicht gar zu verwandeln. In eine andere, eine ohne Vergangenheit. Die sich neu er-findet an einem anderen Ort, Abrakadabra ist sie fort, war da was, war da wer? Man kann sich noch so sehr bemühen, sie, sich hinter sich zu lassen. Ein neuer Mensch in einem neuen Land zu werden. Wo eine keine erkennt und keine beim Namen nennt. Alles noch unverfänglich, man ist keine Vergangenheitsgefangene, festgelegt für immer. Typisch sie! Eine, die so oder so ist und nicht anders. Wo man anonym ist, jede und niemand, gleich und gültig, zumindest eine lange Weile lang.

Schön, hier zu sein! Also in der Heimat, wie es früher poetisch hieß, bevor der Begriff zur Wahnvorstellung Besessener wurde. Die, die keine Lust auf Wurzeln im Kopf hatten, wichen auf das profane, unverfängliche Herkunftsland aus. In der ersten Heimat also, ja, weil das andere Land in dem man Jahr um Jahr verbrachte, ja auch eine Heimat geworden war. Eine Art Heimat. Schlussendlich. Eine aber, in der es nicht so weh tut.

Schön, hier zu sein! Wo eine jemand beim Namen nennt und erkennt, auf eine ganz andere Art wie die Menschen im Land, in dem man gelandet ist aus diesem oder jenem Grund – oft weiß man gar nicht warum. Von Kriegs- oder Katastrophenflüchtlingen rede ich ja nicht, ich rede von denen, die etwas anderes (ver)suchen. Schön, wieder hier zu sein, wo die Menschen so freigiebig küssen beim sich Begrüßen! Sie kennen den Anfang der Geschichte. Aber dann wird es schnell wieder eng nach den Umarmungen.

Einmal ist diese Heimat eine Fata Morgana, es gibt sie in Wirklichkeit gar nicht mehr. Kaum betritt man den Boden, verliert man ihn schon unter den Füßen. Anderes steht jetzt auf diesem Boden, der immer weniger Erde ist, Mutterlanderde. Halthalt, Schluss jetzt mit dem Kitsch! Kitsch mit Wurzeln. Andere sind jetzt hier, andere suchen jetzt hier die Freiheit und die Sicherheit. Das Anonymat. Das Geld. Dort, wo man sich noch vor einer Generation im offenen Vollzug wähnte, hinter den gewellten Vorhängen der Einfamilienhäuser verfolgte die Fußgängerin der Blick der Alteingesessenen, die alles im Blick hatten, weht jetzt der Wind der globalen Freiheit. Im Ösling, wo Füchsin und Häsin einander Gute Nacht sagten, die Menschen einander weniger, logieren jetzt Firmen in Briefkästen, Kunst steht herum wie auf dem Mond. Der Hinterwald, wo noch vor wenigen Jahrzehnten die Welt zugenagelt war, ist jetzt ein globaler Parkplatz. Es ist alles so offen.

Ein andermal zieht eine dieser Boden, kaum hat man ihn betreten, runter. Es wird einer schwer zumute, wie leicht ist es hingegen in einem Land zu sein, mit dem man weniger verbunden ist. Es lebt sich viel leichter. Alles ist unverbindlich, es (be)trifft eine weniger. Die Schmierenkomödien der Politik sind ein Spektakel. Man ist eben da, könnte auch woanders sein, eine Passantin, eine Zuschauerin. Eine nicht Zuständige. Eine Fremde.

Richtig fremd fühlte ich mich nur in meiner ersten Heimat.

Michèle Thoma
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