Die kleine Zeitzeugin

Im Sommer bin ich immer so sterblich

d'Lëtzebuerger Land vom 13.09.2019

Echt wahr, nur im Sommer?, mag sich gebeugte Leserin fragen.

Ja, wann, wenn nicht dann? Wenn alles schreit: Hier, hier!, alles schreit nach dir. Und eine Blüte blüht so schamlos vor dir. Und die Eiskugeln wölben sich, und Alkoholisches in Sonnenuntergangsfarben leuchtet dir. Hier, jetzt. Oder nie. Hier blüht was, da sprüht was, dann verglüht alles unter einer totalitären Sonne. Alles wird elementar, der Schweiß strömt, der Talk der Politiker_innen versiegt.

Vielleicht regnet es aber auch den ganzen Sommer, und man starrt in den Regenfilm und fragt sich, ob es das schon war. Oder ob noch was kommt, die Krallen im Sand, die Reise, die eine zu sich selber führt, wohin sonst. Die endgültige Liebe. Der Tod in Venedig. Aber dann ist nur Biennale.

Wollt ihr den totalen Sommer? Der große und ganze, alles wäre so groß und ganz, sogar man selber. Fülle und Erfüllung, komische altmodische Wörter, aber sie drängen sich auf, bedrängen die Lebenspassantin. Dass der himmlische Tag an einem Meer eine innerlich aufleuchten lässt. Er gibt alles, dafür müsste man sich aber hingeben, das Wörtchen ist ziemlich passé, aber das wäre der Deal. Ohne das geht gar nichts. Totalitär klingt das, beiß’ ins Gras! Tauch’ ein ins Meer, geh’ unter! Aber dann kriegst du schon die Panik, wenn ein Quallenprinzesschen angeschwebt kommt. Und im Sand gibt es Insekten.

Wenn der Sommer ganz jung ist, ist er schon auf seinem Höhepunkt. Jubeljuni. Es ist Mittsommer, die weiße Nacht der Elfen und Faschisten. Dann kommt der Absturz. Nicht schnell, schleichend. Sekunde um Sekunde. Eher ein Abgleiten. Der tiefste Sommer ist der Hochsommer. Höher geht es nicht, das Grün ist schon schwarz.

Das besessene Summen der Fliegen, die auf dem Todesstreifen kleben, der über dem Tisch in der Stube baumelt. Ich bin in der Verbannung auf dem Land. Gesellschaft leisten mir Marienkalender-Bauern, die ernsten Antlitzes über die Scholle schreiten. Und die zwölf Makkabäer. Die Makkabäer sind die Toughsten aus dem Heiligenlegendenbuch. Bei lebendigem Leib gehäutet, keine Weicheier.

Wenn mir ein paar Kinder erscheinen, beerdigen wir Tiere, eher kleine. Wir errichten Grabmale, Altare, veranstalten Prozessionen.

Auf dem Gottesacker helfe ich der Großmutter, den Großvater zu gießen. Im Bett aufgebahrt besprengt die Großmutter mich mit Weihwasser, dann kommen die armen Sünder_innen und die vierzehn Nothelfer_innen, das ewige Licht leuchte, dann schnarcht die Großmutter. Papst Pius X. hatte auf dem Totenbett die Hände über der Brust gefaltet. So wie der marmorne, hakennasige, totenmaskierte Totenbettpapst will ich nicht einschlafen. Aber auch nicht auf der linken Seite, das ist die Herzseite, die Herzschlagseite. Wenn der Herzschlag aufhört, kriegt man einen Herzschlag. Im Großmutterbett ist der Großvater an einem Herzschlag gestorben. Schnarcht die Großmutter noch?

Am 1. August reihen sich die mit den himmelhoch beladenen Gepäckträgern in die Karawane und schleichen in einer langen Schlange gen Süden. Tage und Nächte lang. Sie schlafen auf Autositzen und trinken Lauwarmes aus Thermoskannen. An der Loire schmilzt der Mond in die Loire.

Der Nacken des Vaters ist gegerbt und gekerbt von den Schnitten des Zeitmessers. Während der Reise werden die Eltern immer älter. Dann stehen wir fix und fertig im Blau herum, alles ist blau, hier sind wir jetzt, mittendrin in der Mitte der schönsten Tage.

Mitte August leert sich der Strand. Die Quallen liegen bleich im Sand. Die Algen kommen. Die Deutschen verschwinden, Knochengerüste tauchen auf. Sie kommen aus England. Wenn die Knochengerüste kommen, packt der Sommer ein. Nachts sitzt man nicht mehr in der Badehose, als würde es ewig so weiter gehen. In der Camping-Disco drehen sich die letzten Paare. Ich verfasse geheime Botschaften, die ich unter Bänke oder an Baumstämme hefte. Bald sind wir die letzten Mohikaner_innen am Meer.

Zur Braderie sind wir zurück. Wir stürzen uns auf die Fouer und den Bichermaart. Schwarz wie die Neger, die Tage sind grau.

Das Leben ist wieder da. Der Tod ist vorbei.

Michèle Thoma
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