„Deshalb wollen wir vor den großen Ferien einen weiteren Schritt in Richtung Normalität gehen“, sagte Erziehungsminister Claude Meisch (DP) am vergangenen Freitag auf seiner Pressekonferenz. Zuvor hatte der Regierungsrat in einer mehrstündigen Sitzung entschieden, Meischs Vorschlag zu folgen und die derzeit gültige Trennung in den Schulen A- und B-Gruppen aufzuheben und alle Schüler/innen ab dem 29. Juni in ihren jeweiligen Klassen wieder zusammenzuführen.
Was Meisch als folgerichtigen Schritt in einem wissenschaftlich untermauerten Lockerungs-Kontinuum beschreibt, wirft gleichwohl eine Vielzahl von Fragen auf – und stößt auf mehr Widerstand, als der Minister öffentlich zugibt. Zum einen häufen sich die positiven Covid-19-Fälle auch in Luxemburg wieder. Die Weltgesundheitsorganisation warnte angesichts steigender Infektionszahlen in den USA, aber auch in Deutschland, Portugal und Israel am 19. Juni vor einer zweiten tödlichen Welle der Pandemie. Ulf Nehrbass, Professor am Luxembourg Institute of Health und Leiter des Large Scale Testing, war Tags zuvor von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung damit zitiert worden, die zweite Welle werde im Herbst erwartet. „Und da sollten wir bereit sein“. Eine Einschätzung, die Jean-Paul Schmit teilt: Am Rande einer Pressekonferenz am Mittwoch sagte der Leiter der hiesigen Gesundheitsbehörde, er erwarte für die nächsten Wochen tendenziell steigende Infektionszahlen. Bereits am Montag, während der Chamber-Debatte zu den Covid-19-Gesetzen, hatte Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) gewarnt: „Die Gefahr ist groß, dass wir uns noch ein Eigentor schießen in der zweiten Halbzeit.“
Pädagogisch wertvoll? Trotzdem hält der Bildungsminister an der Aufhebung der Covid-19-bedingten Klassentrennungen so kurz vor der Sommerpause fest. Ab nächster Woche werden soin der Grund- und in der Sekundarschule Schüler aus einer Klasse wieder zusammen unterrichtet, notfalls mit Maske. Meisch riskiert damit, und wegen seiner undurchsichtigen Informationspolitik, den Graben zwischen Lehrpersonal und Ministerium weiter zu vertiefen. Denn an vielen Schulen liegen nach wochenlangem Corona-Ausnahmezustand, Homeschooling und Dauerstress die Nerven blank. „Die Schulen haben sich mit viel Aufwand auf das A- und B-System eingestellt und müssen sich jetzt erneut umstellen. Die fühlen sich veräppelt“, sagt Patrick Arendt von der Lehrergewerkschaft SEW. Direktionen und Lehrpersonal haben alles getan, um Klassen zu splitten, die Schüler zum Maskentragen anzuhalten und den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von zwei Metern einzuhalten.
Jetzt müssen sie neue Stundenpläne schreiben. Lehrer, die zur Risikogruppe zählen, waren dank großzügiger Sicherheitsabstände zuruck in der Schule; das ist mit dem Zusammenlegen wegen der Dichte nicht mehr möglich. Auch Meischs Argument, in den gewonnenen 13 Stunden könnten Schüler noch Lernstoff aufholen, bewerten Pädagogen skeptisch: „Jeder weiß, dass die Schüler vor der Sommerpause durchhängen. Wegen Covid-19 ist ihre Erschöpfung größer als in anderen Jahren“, so Arendt.
Nervöse Eltern rufen in Schulen an, weil sie, in Erwartung, ihr Kind sei in der B-Gruppe, den Urlaub eine Woche früher geplant haben. „Es herrscht schon wieder Chaos“, findet Arendt. Laut großherzoglicher Verordnung gilt die Schulpflicht in der Grundschule nur für den Präsenzunterricht; in der B-Woche können Kinder zuhause lernen. Vor allem aber berichten Lehrer, die Aufteilung in kleinere Gruppen habe geholfen, schwächere Schüler, die im Homeschooling riskierten, den Anschluss zu verpassen, gezielter zu unterstützten. „So kann ich mich Schülern einzeln widmen“, erzählt eine Lehrerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Eine Beobachtung, die die Gewerkschaften teilen. „Pädagogisch betrachtet, sind kleinere Lerngruppen besser“, sagt Patrick Remakel vom SNE. Die Gewerkschaft hat angekündigt, die Diskussion um Kontingente und Klassengrößen voranzutreiben.
Verschweigen statt Transparenz Das ist nicht der einzige Grund, warum Meischs Vorstoß vor allem in den Lyzeen auf breite Ablehnung trifft. Was der Minister der Öffentlichkeit am vergangenen Freitag nicht erzählte: In derselben Woche war an einem Lyzeum in der Hauptstadt ein Schüler positiv auf Covid-19 getestet worden. Kurz darauf wurde ein weiterer Jugendlicher aus derselben Gruppe positiv getestet. Eltern erhielten Anrufe von den Gesundheitsbehörden, sie sollten ihr Kind dringend testen lassen – mit der Folge, dass die Sorge vor weiteren Ansteckungen wieder wächst und in den Fluren und auf den Pausenhöfen Gerüchte neuer Infektionsketten die Runde machen.
Die Direktionen behandeln Infektionen streng verstraulich. Aus Datenschutzgründen, um positiv getestete Schüler nicht zu stigmatisieren. Doch auch in anonymisierter Form gibt es kaum nennenswerten Austausch zwischen Ministerium und Schulen über das Coronavirus. Die Krisenkommunikation erfolgt sporadisch: Außer einem Beitrag zu Covid-19 und Kindern der Research Taskforce vom 9. Mai und dem Webinar am 20. Mai auf Radio 100,7 mit den Kinderärzt/innen Isabel de la Fuente Garcia und Fernand Pauly vom CHL gibt es keine neuen Informationen darüber, ob und wie sich das Virus bei Kindern und Jugendlichen hierzulande verbreitet. „Außer den Hygiene-Empfehlungen der Santé haben wir nichts Neues bekommen“, bestätigt ein Regionaldirektor, der anonym bleiben will.
Dem Minister müssen die jüngsten Infektionen in der Hauptstadt am Freitag bekannt gewesen sein – seine Dienste standen da bereits mit den Verantwortlichen in Kontakt, um abzuklären, wie weiter vorzugehen sei. Offenbar wird der Unterricht dort ausnahmsweise weiter im geteilten System erfolgen. Auch zu Tests und zum Tracing von Schülern wurden bislang keine Details mitgeteilt, weder über das Alter, noch über den Infektionsort, weder an die Regionaldirektionen, noch an die Direktionen, noch dem Parlament. Als das Land von Meisch wissen wollte, wie viele Schüler seit der Wiedereröffnung positiv auf das Virus getestet wurden, schätzte er die Zahl der Infizierten auf 15, ließ dabei aber offen, ob es sich dabei nur um Schüler oder Schüler und Lehrpersonal handelte. Die Land-Nachfrage, ob ihm Fälle aus jüngerer Zeit bekannt seien, überhörte er.
Covid in der Schule Das Gesundheitsministerium lieferte am Mittwoch Zahlen: 17 Kinder zwischen 13 und 17 Jahren seien seit Aufhebung der Wiederaufnahme des Schulbetriebs positiv auf das Virus getestet worden, sowie zehn Kinder zwischen 5 und 12 Jahren. Tests während des Lockdown ergaben für die Stichproben der Grundschule 0,7 Prozent positive Covid-19-Fälle und für die Sekundarstufe 0,6 Prozent. Die aktuellen Daten seien „eher beruhigend“ wegen der geringen Zahl der Fälle und ihrer schnellen Einhegung, so dass man in Richtung „einer anderen Organisationsform“ gehen könne, schreibt das Gesundheitsministerium dem Land. Es gebe eine Reihe Studien, wonach sich Kinder „nicht so leicht anstecken“, präzisierte Jean-Claude Schmit am Mittwoch. „Und wenn sie sich anstecken, werden sie nicht so schwer krank.“ Das Virus, das an Rezeptoren andockt, sei in kleinen Kindern bis zehn Jahren in geringerem Umfang nachweisbar, weil sie weniger der Rezeptoren haben. Für Jugendliche gilt das nicht im selben Maße: „Ein Teenager von 14 bis 16 Jahren ist wie ein Erwachsener zu betrachten.“ Dass ihr Ministerium gleichwohl der Aufhebung des Klassensplitting auch in den Lyzeen zustimme, liege daran, dass aktuelle Hochrechnungen, dass es „nicht bedenklich“ sei. „Wir sehen nichts, das dagegen spricht“, so Paulette Lenert.
Die Modellrechnungen der Taskforce Research, mit denen die Ministerin ihre Zustimmung begründet, wurden am 20. Juni berechnet. Claude Meisch wird folglich am Freitag gewusst haben, dass neue Modellrechnungen zu unterschiedlichen Szenarien im Schulwesen unterwegs waren; der Presse sagte er davon nichts. Mit anderen Worten: Der Regierungsrat hat Meischs Plan gutgeheißen, ohne die neuen optimistischen Hochrechnungen zu kennen. In einem Schreiben an die Direktionen, die dem Land vorliegt, schreibt der Leiter der Sekundarschulabteilung, die Gesundheitsbehörden hätten das Vorhaben vor der Regierungsratssitzung abgesegnet. Tatsächlich kursierte ein entsprechendes Szenario bereits rund eine Woche zuvor an Schulen, bevor es am Donnerstag via RTL aufgegriffen wurde.
Es ist nicht das erste Mal, dass RTL wie ein Sprachrohr des Ministers fungiert, zum Ärger der Schulleitungen. RTL-Journalisten berichteten als erste über die Schulschließungen im März und sie waren es, die die bevorstehende Wiedereröffnungen meldeten. Zufall? Böse Zungen behaupten, dem Radio würden aus dem Ministerium gezielt Informationen zugespielt. Vertrauensbildung innerhalb einer Schulpartnerschaft geht anders. Paulette Lenert ihrerseits unterstrich erneut, ihr Ansatz sei immer gewesen, zunächst 14 Tage für neue Ergebnisse abzuwarten, bevor man weiteren Lockerungen zustimme. Diese Regel wurde dieses Mal nicht eingehalten.
Die Covid-Fälle in der Hauptstadt sind nicht die ersten und werden nicht die letzten an einer Schule sein; das ist grundsätzlich nicht weiter dramatisch: Als die Primaner Anfang Mai wieder in die Schulen kamen, wurden bei vorgeschalteten Tests einige positiv getestet; sie mussten in Quarantäne und konnten danach wieder in die Schule. Das ist die Prozedur, die die Gesundheitsbehörden vorschreiben. Die positiv getesteten Schüler von vergangener Woche wurden ebenfalls zuhause in Quarantäne geschickt und ihre Familien gleich mit. Weitere Schüler werden nach und nach getestet.
In diesem Szenario müssen Schulleitungen schwierige Entscheidungen treffen. Sie sind verantwortlich für die Umsetzung der Schutzmaßnahmen. Doch weil das Erziehungsminister nicht offen kommuniziert, wird das zum Drahtseilakt: Entwarnung geben können sie nicht, schonungslos aufklären aber auch nicht, zumal ihnen wichtige Daten und Einschätzungen gar nicht vorliegen. „Es ist schade. Wir würden uns wünschen, mehr in die Planung einbezogen zu werden“, sagt Claude Hemmer, Präsident der Direktorenkonferenz. Die Direktionen hatten sich mehrheitlich gegen die Zusammenlegung ausgesprochen. Für September bereiten sie sich auf eine normale Rentrée vor. „Aber was ist der Plan B, sollten die Infektionszahlen wieder steigen?“, fragt Hemmer.
Raoul Scholtes von der Gewerkschaft Feduse nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir haben Null Informationen.“ Sein ausgesprochener Verdacht (mit dem der Lehrer nicht alleine ist), die Aufhebung des Klassensplitting sei ein Testlauf für die Rentrée, habe Meisch in einer Visiokonferenz mit den Gewerkschaften vorvergangene Woche weit von sich gewiesen. Am Mittwoch antwortete Lenert auf dieselbe Frage: „Wenn Sie so wollen: ja.“
Informiert statt konsultiert Claude Meisch hatte am Freitag betont, er habe sich mit den unterschiedlichen Schulakteuren für seinen neuerlichen Vorstoß beraten. Dabei handelte es sich wohl um dieselbe Form „Konsultationen“, für die der Minister immer wieder gescholten wird. „Er schlägt etwas vor. Wir tragen unsere Positionen vor. Und dann macht er, was er will“, beschreibt Patrick Arendt den Ablauf. „Wir wurden lediglich informiert“, sagt Raoul Scholtes von der Feduse.
Mindestens zwei Schulleitungen haben Meisch diese Woche Briefe geschrieben, in denen sie Bedenken äußern und den Minister bitten, von der Klassenzusammenlegung abzusehen. Sie fühlen sich außerstande, „die sanitäre Sicherheit in meinem Gebäude zu gewährleisten“. Hinter vorgehaltener Hand beschreiben Gewerkschaften und Schulleitungen das Vertrauensverhältnis zum Minister als „schwer angeschlagen“ und die Stimmung in den Lehrerzimmern als „frustriert“; eine gefährliche Entwicklung, denn in einer Pandemie muss sich jeder auf den anderen verlassen können. Dabei hätten sie alle möglicherweise gar Verständnis, würde der Minister mit offenen Karten spielen und erklären, wie er sich die Vorgehensweise bis zur Schul-Rentrée konkret vorstellt.
Denn in der Grundschule trifft sein Vorschlag auf mehr Zustimmung; dort sind die Bedingungen allerdings andere: Die Klassen sind durchschnittlich kleiner und Gewerkschaften hatten deswegen von vornherein die Aufteilung in A- und B-Gruppen kritisiert. Oft sitzen in einer Klasse kaum mehr als 15 Schüler. Weil die maximal zulässige Schülerzahl während des Déconfinement bei zwölf lag, wurde häufiger in Kleinstgruppen unterrichtet – ein enormer Personalaufwand, der nur mit zusätzlichen Lehrkräften zu stemmen war. Bei den Sechstklässlern kommt ein weiter Aspket hinzu: Sie wechseln nächstes Jahr in die Sekundarstufe und haben ihre Klassekameraden aus der anderen Gruppe zuletzt nur über Video sehen konnen. „Für sie ist es schön, sich persönlich zu verabschieden. Aber dafür hätten ein bis zwei Tage gereicht“, so Patrick Arendt vom SEW.
Normal wird ihr Schulstart nach den Sommerferien trotzdem kaum sein: „Ein Unterrichten im gesamten Klassenverband“ sei im nächsten Schuljahr „weiterhin mit sozialer Distanzierung zu empfehlen“, schreiben die Forscher der Research Taskforce. Auch die Kontaktverfolgung bleibe für die Virusbekämpfung essenziel. Eine zweite Welle sei ein „durchaus mögliches Szenario“.