In den Koalitionsverhandlungen von CSV und DP waren wichtige militärpolitische Vorschläge abgeräumt worden. Kein Wunder, dass die „Zeitenwende“ in Luxemburg von Konfusion und Unsicherheit geprägt ist

Kann Frieden Krieg?

d'Lëtzebuerger Land du 19.07.2024

Die militärpolitische Zeitenwende Luxemburgs vollzieht sich nicht ohne ein gewisses Maß an Konfusion und Unsicherheit, die sich unter anderem auch in rezenten Äußerungen von Verteidigungsministerin Yuriko Backes (DP) widerspiegeln. So erklärte sie im Tageblatt am
2. April: „Es tobt ein Krieg vor der Tür“, und am 12. April im Land einerseits: „Wir ziehen ja nicht in den Krieg“, sowie andererseits: „Unsere Armee bereitet sich jeden Tag auf eine Kriegssituation vor.“ Um am 29. Juni im Wort zu erklären, dass es in Luxemburg, ähnlich wie im Ausland, wohl auch zu einer Diskussion über eine Wehrpflicht kommen werde. Bei letzterem Punkt wird die Dynamik dessen, was sagbar, beziehungsweise vorstellbar ist, besonders deutlich. So hatte Yuriko Backes im Land-Interview vom 12. April zur Wehrpflicht noch erklärt: „Für uns ist das im Moment kein Thema.“

Neben der Vorstellungskraft der Politik wird auch das Beschaffungswesen und die innere Verfasstheit der Armee mit der Ansage von der Entwicklung überrollt. Die Besetzung der Krim durch Russland 2014 machte klassischen Landkrieg gegen einen symmetrischen Gegner wieder zur Priorität der Nato-Planung. Luxemburgs Verantwortliche in Regierung, Verteidigungsdirektion und Generalstab gingen jedoch davon aus, dass man bei den Missionen der Vergangenheit bleiben könne. So wurden 2019 für die Armee als Nachfolger der teilweise veralteten, beziehungsweise verschlissenen Fahrzeuge vom Typ Hummer und Dingo Modelle vom Typ Eagle V ausgeschrieben, die für beobachtende Aufklärung, Überwachung und für Patrouillen im Rahmen von Friedensmissionen ausgelegt sind. Ziel war auch, den Fuhrpark der Armee zu vereinheitlichen. Mit der Auslieferung der Eagle V wird 2025 gerechnet.

Die Nato forderte jedoch die Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels sowie außerdem einen robusteren Beitrag von Luxemburg, woraufhin man gemeinsam mit Belgien die Aufstellung eines binationalen Bataillons zur mittleren Kampfaufklärung zusagte.

Nostalgie geht aus dem Text des Gesetzentwurfs Nr. 8389 vom 31. Mai 2024 über die Finanzierung der Beschaffung von Fahrzeugen und weiterer Ausrüstung für das binationale Bataillon hervor: In dem Text heißt es eindeutig, dass Friedensmissionen nach wie vor Teil des Aufgabenspektrums der Armee bleiben.

Es spricht für das Selbstvertrauen der Truppe, dass man sich beides zutraut. Ob dabei insgeheim schon eine Wehrpflicht eingeplant ist, entzieht sich der Kenntnis des Autors. Neben der robust klingenden Bezeichnung des Bataillons (bataillon de reconnaissance de combat de type médian) vermittelt im Motivenbericht des Gesetzentwurfs vom 31. Mai auch die technische Beschreibung der Kampffahrzeuge Jaguar, Griffon und Serval, die nach den noch nicht gelieferten Eagle V ausgeliefert werden sollen, eine Ahnung von Robustheit: „Sa mission est d’aller au plus près de l’ennemi pour acquérir du renseignement…“, oder: „Les véhicules médians combinent l’agilité des véhicules légers avec la plus grande létalité et la capacité de survie des véhicules lourds de type chars de combat chenillés.“ Die Fahrzeuge sollen also im Notfall auch Kampfpanzer bekämpfen können. Damit entsprechen sie dem Bild klassischer Panzeraufklärer. Deren Aufgabe ist nicht nur eine Beobachtung unter Vermeidung von Feindkontakt, sondern auch die kämpfende Aufklärung: Durch Angriff oder Feuer wird der Feind gezwungen, sich zu entfalten, seine Stellungen, Stärke und Bewegung zu offenbaren. Dies gilt sowohl bei eigenen Vorstößen wie auch in der Verteidigung, beziehungsweise beim Ausweichen. Bestimmung sind auch schnelle raumgreifende Vorstöße, das Besetzen und Halten wichtiger Punkte, wie Brücken, Kreuzungen und Höhen, bis zum Eintreffen der eigenen Hauptstreitmacht.

Es handelt sich hier um die Königsdisziplin des militärischen Handwerks. Das Potenzial einer solchen Truppe lässt sich nur ausschöpfen, wenn sie die Chancen, die sich bei diesen Vorstößen auftun, selbstständig ausnutzt. Was wiederum weitestgehende Entscheidungs- und Handlungsfreiheit in Kenntnis und im Rahmen der Absicht der übergeordneten Führung voraussetzt. Dies erfordert Erziehung zur Eigeninitiative, handwerkliches Können sowie Vertrauen zwischen Führenden und Geführten.

Genau an diesem Punkt tut sich die Problematik auf, die im Land schon mehrfach thematisiert wurde: Die aktuelle Führungskultur, welche aus den Reihen der Berufsmilitärs hinterfragt wird, steht den Ansprüchen einer solchen Truppe diametral entgegen. Beklagt werden ein ausuferndes Mikromanagement und Vorgaben hinsichtlich des Weges zum Ziel. Gefordert wird aus den Reihen der Berufsmilitärs die Orientierung am Prinzip des Führens mit Auftrag: Der Vorgesetzte unterrichtet über seine Absicht, setzt klare erfüllbare Ziele und stellt die erforderlichen Mittel und Kräfte bereit. Einzelheiten zur Durchführung befiehlt er nur in Ausnahmefällen.

Im Land-Interview vom 12. April erklärte die Verteidigungsministerin hierzu: „Ich habe absolut nichts gegen Eigeninitiative und Kreativität“, und nur wenige Zeilen weiter: „Da braucht es klare hierarchische Strukturen und Disziplin“, und: „Ohne Hierarchie und Disziplin wird das nichts.“ Die Ministerin sieht also offensichtlich einen Gegensatz zwischen dem Prinzip des „Führens mit Auftrag“ und den Prinzipien von Hierarchie und Disziplin.

Es kann nicht darum gehen, liebgewonnene Gewohnheiten, Ansprüche und Präferenzen von Spitzenmilitärs zu bewahren. Sondern es muss um Erfordernisse des dynamischen Gefechts im Rahmen einer hochmobilen technisierten Truppe mit schnell und hochfrequent wechselnden Lagen gehen. Eine pyramidal agierende Führung kann gar nicht so viel und so schnell auswerten, entscheiden und befehlen, wie erforderlich ist. Eigenständiges Handeln der unteren Ebenen im Rahmen der Führungsabsicht ist unumgänglich und bedeutet im militärischen Fachjargon „Führung mit Auftrag“. Im Rahmen des aktuellen Garnisonsdienstes stellt das Phänomen des Mikromanagements ein wesentliches Element der Demotivation von Berufsmilitärs und Zivilisten dar, die diesen Führungsstil als absurd paternalistisch und bevormundend empfinden. So lassen sich weder Freiwillige für den Dienst motivieren noch bei der Stange, sprich: in der Truppe halten. Ministerin Backes hat in ihrem jüngsten Wort-Interview verklausuliert zugegeben, dass die Bemühungen um eine Personalaufstockung der Armee bislang zu nichts geführt haben und es wohl, wie im Ausland, eine Diskussion um eine Wehrpflicht geben werde.

Der Autor hat zu militärischen Themen geforscht und vertritt die Auffassung, dass eine Wehrpflicht, die vor allem die Zahl der mobilisierbaren Kräfte erhöhen soll, andere und deutlich erweiterte Kapazitäten braucht als die friedensmäßige Berufs- und Freiwilligenarmee. Es braucht mehr an Infrastrukturen (Unterkünfte, Schießstände, Übungsplätze und so weiter) und mehr an Ausstattung (Waffen, Fahrzeuge, Gerät aller Art). Vor allem braucht es mehr Personal (Kader) zur Ausbildung und Führung dieser größeren Truppe. Eine Wehrpflicht, die ausschließlich dazu dienen soll, die Lücken der gegenwärtigen Armee zu schließen, wäre sinnlos: Sie würde große Kapazitäten binden, um Kurzzeitsoldaten auszubilden, da die Dauer der Wehrpflicht kaum über 15 Monate hinaus reichen dürfte. Sinn hätte dies nur, wenn die Wehrpflichtigen anschließend Reservistenstatus erlangten und zum Beispiel bis zum 45. Lebensjahr jährlich zu Reserveübungen einberufen würden. So würde ein Aufwachsen der Truppe im Bedarfsfall ermöglicht. Diese Lösung scheint derzeit politisch und gesellschaftlich noch nicht konsensfähig sein, aber sie muss vorausgedacht werden und die organisatorischen Voraussetzungen müssen so weit wie möglich geschaffen werden.

Es liegt jedoch nahe, vor einer allgemeinen Wehrpflicht eine Armee-Reserve aus den abgehenden Freiwilligen mit drei beziehungsweise vier Dienstjahren zu bilden. Die abgehenden Freiwilligen sind ausgebildet und könnten kurzfristig Löcher stopfen. Zu prüfen ist, inwieweit die Gesetzeslage dies ermöglicht, und ob eine vorläufig freiwillige Bereitschaft hierzu gegeben ist, beziehungsweise durch entsprechende Anreize geschaffen werden könnte. Als Sofortmaßnahme muss der Reservistenstatus Teil des Regelwerks für Freiwillige und Berufssoldaten werden. Aus diesem Pool wäre auch Personal zu gewinnen, um im Falle einer eventuellen späteren allgemeinen Wehrpflicht einen Teil des notwendigen Führungspersonals vorzuhalten nach dem Grundsatz: Reserve führt Reserve. Diese Lösung wäre weitestgehend kostenneutral, da die abgehenden Freiwilligen ganz überwiegend sowieso zu irgendeinem Teil des öffentlichen Dienstes gehören.

Beide Optionen, Wehrpflicht wie auch Armee-Reserve, setzen allerdings zwingend eine Veränderung der Militärkultur voraus. Anders lässt sich die Akzeptanz des Dienstes durch Wehrpflichtige und Reservisten in einer westlichen liberalen Demokratie nicht gewinnen. Diese Akzeptanz ist erforderlich, um eine funktionierende Truppe zu formen, die künftigen Anforderungen gerecht werden kann. Im Vorfeld der Parlamentswahlen wurden dazu einige geeignete Vorschläge gemacht. Neben dem Prinzip des Führens mit Auftrag und einer Reserve-Armee wurde auch gefordert, eine Art „Wehrbeauftragten“ (Haut-Commissaire aux Affaires Militaires) mit eindeutigen Befugnissen zu schaffen.

Diese Elemente sind unerlässlich, um sicherzustellen, dass die Armee im Kräftefeld von sozialem und demografischem Wandel einerseits sowie einer verdüsterten geopolitischen Gesamtlage andererseits ein funktionierendes und akzeptiertes Instrument bleibt, beziehungsweise wird. Yuriko Backes erwähnte im Wort-Interview am 29. Juni, dass Verteidigung nicht das einzige Ressort sei, dem sie vorstehe. Sie sei auch noch für Mobilität, öffentliche Bauten, Gendergleichstellung und Diversität zuständig. Die Schaffung eines eigenständigen, vollumfänglich zuständigen Verteidigungsministeriums wurde unter anderem von ihrem Vorgänger François Bausch (Grüne) gefordert, im Zuge der Koalitionsverhandlungen aber offensichtlich abgeräumt. Insofern ist es bemerkenswert, dass Backes nun ihre multiplen Zuständigkeiten beklagt. Dass Verteidigung rasant an Wichtigkeit und Budgetanteil zunehmen würde, war bei den Koalitionsgesprächen schon absehbar, was die Entscheidung noch unverständlicher macht. Derzeit lässt die zunehmende Entwicklungsdynamik die nationale Politik regelmäßig hinterherhinken. CSV-Premier Luc Frieden müsste der Öffentlichkeit verkünden, dass militärische Ertüchtigung nicht auf Yogamatten geschieht und nicht aus der Portokasse bezahlt wird. Er muss klarmachen, dass Wehrpflicht Teil der ideellen Kernelemente nationaler Identität und Sinnstiftung der Konservativen ist, ebenso wie legitime ultima ratio zur Verteidigung der Ideale der offenen Gesellschaft der links-liberal-grünen Seite angesichts von Putins imperialistischem Eroberungskrieg.

Eine Wehrpflicht setzt ein anderes Verständnis der Bestimmung von Staat und Gesellschaft voraus als den materialistischen Konsens zur Schaffung und Verteilung von Wohlstand, auf den man sich über die letzten Jahrzehnte zunehmend als kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt hat. Ja, es mag ungewohnt klingen, aber Wehrpflicht bedeutet auch dienen, statt zu verdienen. Wehrpflicht bietet aber auch eine Chance zu Identitätsbildung und sozialer Kohäsion.

Luc Frieden hat sich als CEO der Wohlstandsfabrik Luxemburg erfolgreich beworben mit einer „entspannten“ Sicht auf Klimaprobleme und der Ansage, das Kerngeschäft Wohlstandsproduktion zu beleben. Kann er auch die militärische Zeitenwende, den Paradigmenwechsel in Gesellschaft und Truppe bewerkstelligen? Die Frage, die sich zunehmend stellt, ist die, ob er auch ein kleines bisschen Churchill kann oder nur CEO. Kann Frieden Krieg?

Reiner Hesse ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er hat über Militärpolitik und Militärsoziologie geforscht.

Reiner Hesse
© 2024 d’Lëtzebuerger Land