Eine Viertelstunde Ruhm. Der US-amerikanische Medienphilosoph Marshall McLuhan gestand sie jedem Menschen zu. 15 Minuten Aufmerksamkeit genießen. Dann zieht die Karawane weiter. Dieser Tage sonnt sich Kevin Kühnert darin, Vorsitzender der sozialdemokratischen Jugendorganisation Jusos. Ein Interview mit den Tagesthemen der ARD hier, ein Beitrag im Nachrichtenmagazin Der Spiegel dort. Kevin Kühnert gebiert sich darin als Galionsfigur der Gegner einer möglichen, sondierten, angedachten Großen Koalition von CDU, CSU und SPD. Derzeit haben es die Führungskräfte der SPD schwer, die Parteibasis für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zu überzeugen. Es seien zu wenige sozialdemokratische Ziele und Projekte im Abschlusspapier der Sondierung vertreten, findet Kühnert und macht Stimmung gegen eine Fortführung der Großen Koalition.
Für die Fortführung der bisherigen Koalition spricht zunächst die staatspolitische Verantwortung. Nachdem die Freien Demokraten die Jamaika-Verhandlungen mit CDU und Grünen hatte platzen lassen, liegt dieser Schwarze Peter nun bei der SPD. Auch wenn es ungerecht scheint, aber sie und nicht die Union würde verantwortlich gemacht, wenn auch die Große Koalition nicht zustande käme. Mehr noch: Wenn Neuwahlen notwendig werden, hätte Deutschland fast ein Jahr lang keine Regierung. Der Nimbus eines politisch stabilen Landes wäre angekratzt. So etwas schwächt nicht nur den internationalen Einfluss etwa auf europäischer Ebene, sondern wird auch zum Hindernis für die Wirtschaft.
Neuwahlen würden zum jetzigen Zeitpunkt erhebliche personelle und inhaltliche Debatten, wenn nicht sogar Chaos in der SPD auslösen. Martin Schulz müsste um Vorsitz und Spitzenkandidatur bangen. Bei der Union ginge es vergleichsweise stabil zu, Angela Merkel träte erneut an. Am Ende würde das Ergebnis der vorgezogenen Wahlen an der Ausgangslage für die SPD wenig ändern – es wäre wahrscheinlich sogar noch schlechter als es Ende September war. Anders ist es, wenn später gewählt wird: Dann ist Unruhe bei der Union, weil Merkel geht. Die SPD hätte sogar die Option, die neue Regierung vorzeitig scheitern zu lassen. Die Taktik muss also lauten: Augen zu und durch, dabei den kalkulierten Koalitionsbruch im Hinterkopf behalten.
Die Genossen müssen sich überhaupt fragen, ob sie in einer anderen Konstellation für ihre Wähler mehr durchsetzen könnten als mit einer Union, der auch an einer Großen Koalition gelegen ist. Mit der FDP in einer Ampel sicher nicht. Und bei Rot-Rot-Grün müssten sich Linke und SPD noch sehr aufeinander zu bewegen, was Zeit braucht. Außerdem gibt es dafür derzeit keine Mehrheit. Was der SPD bleibt, auch wenn es ihr notorisch schwerfällt: Nicht jammern über das nicht Erreichte, sondern mit dem Erreichten werben.
Gegen eine Koalition von CDU/CSU und SPD spricht das Wahlergebnis. Minus 15 Prozent, ein deutliches Zeichen. Die Bürgerinnen und Bürger wollten kein Weiter so. Beide Parteien schafften es in den Sondierungen nicht, der Fortsetzung ihres Bündnisses so etwas wie eine Philosophie einzuhauchen, die die Menschen begeistern könnte. Nach der Wahl analysierte man zu Recht, dass es Union und SPD an Unterscheidbarkeit fehle. Dieser Zustand würde mit einer Neuauflage der Koalition fortgesetzt. Es ist durchaus möglich, dass sich die Leute dann noch weiter von den Volksparteien abwenden.
Die SPD wollte sich in der Opposition grundlegend regenerieren und so neues Personal aufbauen, die innerparteiliche Mitbestimmung entwickeln, das Programm schärfen. In Regierungsverantwortung aber gilt vom ersten Tag an Koalitionsdisziplin. Grundsätzliche Debatten sind da ebenso wenig erwünscht wie Mitgliederentscheide, die die Regierungspolitik stören. Und das alte Personal bliebe womöglich auf den Ministersesseln sitzen. Der Generationswechsel würde vertagt, der Erneuerungsprozess verschoben. Die Große Koalition bedeutet auch eine Stärkung der kleineren Parteien, allen voran der AfD, die größte Oppositionspartei wäre. Die AfD könnte sich mit ihrem „Merkel muss weg“-Slogan weiter profilieren. Aber auch FDP, Grüne und Linke würden sich an der Regierung reiben. Die Gefahr besteht, dass sie alle größer und die SPD, wie vielleicht auch die CDU, kleiner werden.
Aller staatspolitischen Verantwortung zum Trotze gibt es auch eine Verantwortung gegenüber der eigenen Partei. Diese Sorge überwiegt momentan bei den Genossen, dass die SPD noch weiter in Bedeutungslosigkeit versinken wird, so wie die französische Schwesterpartei PS nach dem Wahlsieg von Emmanuel Macron. Es geht nicht um Land, Bevölkerung und Europa, sondern um die Partei als Heimat und Basis für Berufskarrieren. Dafür kämpft Kevin Kühnert. Zudem für Neuwahlen und für sein eigenes Vorankommen, denn Kühnert schielt offen auf ein eigenes Mandat im Bundestag. An diesem Sonntag wird nun eine Delegiertenkonferenz der SPD darüber abstimmen, ob auf Basis der Sondierungsergebnisse Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU aufgenommen werden sollen.