Angeblich war der Platzspitz der Lieblingsort von James Joyce während seiner Zürcher Zeit zwischen 1915 und 1919. Die Parkanlage befindet sich auf einem spitz zulaufenden Gelände, an dem die Sihl und die Limmat, die beiden Flüsse, die Zürich durchqueren, ineinanderfließen.
Mit den großen Rasenflächen und den mächtigen Platanen, die sie umgeben, ist der Platzspitz ein beliebtes Erholungsgebiet im Stadtzentrum, nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Der Uferweg am Seitenkanal der Limmat ist bei schönem Wetter gesäumt von Menschen; im Sommer baden viele Zürcher im sauberen Fluss. Trotz regelmäßiger Polizeikontrollen hängt vielerorts ein süßlich-würziger Duft von Marihuana in der Luft. Cannabisprodukte sind die meistkonsumierten illegalen Substanzen in der Schweiz – die Eidgenossen pflegen entgegen ihrem konservativen Image einen relativ lockeren Umgang mit Haschisch und Marihuana. An einem Ort wie dem Platzspitz empört sich kaum ein Stadtbewohner über den öffentlichen Drogenkonsum. Volljährige Kiffer riskieren schlimmstenfalls eine Geldbuße, sollten sie von einem Polizeibeamten in der Öffentlichkeit erwischt werden. Der Konsum an sich ist unlängst entkriminalisiert worden. Diese liberale Haltung der Zürcher gegenüber Drogen erklärt sich durch ein Trauma, das im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert ist.
Ende der 1960-er Jahre begann der Heroinkonsum in der Schweiz, wie auch in anderen Wohlstandsgesellschaften, eine neue Dimension und vor allem eine neue Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit anzunehmen. „Ab 1982 bildeten sich volatile Gassenszenen1“, wie der ehemalige Leiter der klinischen Immunologie am Zürcher Universitätsspital, Peter Grob, berichtet. Die Behörden ließen die Konsumenten vertreiben, wenn ihre Präsenz in einem Stadtviertel zu auffällig wurde.
Anfangs war das vor allem im heute gut situierten Quartier Seefeld der Fall. Damals war der Allgemeinmediziner André Seidenberg als Notfallarzt in Zürich tätig. In einem Artikel für Das Magazin erinnert er sich: „Die süchtigen Kleindealer blieben süchtig, und nach jeder Vertreibung sammelte sich die Drogenszene wieder an neuen Orten.2“ Die Szene verlagerte sich nach und nach über das Altstadtzentrum hin zum Platzspitz, wo sich in den folgenden Jahren die größte offene Drogenszene Europas versammelte. Die Parkanlage erlangte unter dem Namen „Needle-Park“ internationale Berühmtheit. Die Polizei war nicht in der Lage, die Szene mit repressiven Maßnahmen dauerhaft aufzulösen. Drogendelikte wurden im Laufe der Zeit zwar zu einem der wichtigsten Gründe für Haftstrafen in der Schweiz. Nach Absitzen ihrer Strafe wurden die Heroinsüchtigen jedoch ohne begleitende Maßnahme entlassen und kehrten wieder in die Szene zurück.
Seidenberg schildert Zustände auf dem Platzspitz, die dem heutigen Besucher befremdend erscheinen: „Im Flussbett der Sihl beim Platzspitz wohnten Fixer in Hütten aus Karton und Wellblech. (…) In den städtischen Notschlafstellen wurden mit HI-Viren verseuchte Spritzen herumgereicht, als wären es Haschisch-Zigaretten.3“
In keinem anderen westeuropäischen Land gab es damals mehr HIV-infizierte Menschen als in der Schweiz. Notärzte und Sozialarbeiterinnen begannen angesichts der sich ausbreitenden Aids-Epidemie, trotz unsicherer Rechtsgrundlage sauberes Injektionsmaterial an die Konsumenten abzugeben. Von 1988 bis 1992 wurde auf Basis einer zum Teil widersprüchlichen Auslegung des Epidemiengesetzes das Zipp-Aids-Pilotprojekt durchgeführt, das im Wesentlichen die Abgabe von Spritzen durch medizinisch geschultes Personal ermöglichte. Der Immunologe Peter Grob konnte in einem Toilettenhäuschen in der Parkanlage dauerhaft eine Abgabestelle einrichten. Es war nicht zuletzt die Verbreitung von Aids, die erstmals zu einem Umdenken in der Drogenpolitik führte. Die tödliche Krankheit verlieh der Drogenszene eine für die Gesamtgesellschaft bedrohliche Dimension und diente gleichzeitig als ethische Legitimierung für die langsame Öffnung der Schweizer Drogenpolitik.
André Seidenberg hatte sich zusammen mit weiteren Fachleuten schon zuvor für eine Lockerung der restriktiven Abgabe von Heroin-Ersatzdrogen und der hausärztlichen Abgabe von Substitutionsprodukten eingesetzt. 1991 wurde auf private Initiative hin die Arbeitsgemeinschaft für risikofreien Drogengebrauch (Arud) gegründet, die eine Poliklinik für Methadon-Substitutionsprodukte als Ergänzung zu den bestehenden Behandlungen einführte. Auf Empfehlung der eidgenössischen Subkommission für Drogenfragen formulierte der Bundesrat im gleichen Jahr die Grundpfeiler einer umfassenden Drogenpolitik. Zu dem Vier-Säulen-Modell gehörten: Prävention, Therapie, Schadensverminderung und Repression. Das Modell wurde aus einer Not heraus im Wesentlichen auf die Initiative von Fachleuten hin entwickelt, die in der Praxis neue Wege gingen – noch bevor diese legal verankert wurden. Die Illusion von einer drogenfreien Gesellschaft wurde zugunsten des pragmatischen Prinzips der Schadensminderung für Konsumenten aufgegeben.
Während in allen Bereichen der Öffentlichkeit Grabenkämpfe ausgetragen wurden, wuchs die offene Drogenszene am Platzspitz weiter. Die Drogenabhängigen wurden sich selbst überlassen, die hygienischen Zustände waren untragbar. 1991 forderte der Statthalter des Bezirks Zürich, Bruno Graf, die Schließung des Platzspitz. Im darauffolgenden Jahr verzeichnete die Schweiz über 400 Drogentote – ein Zeichen des landesweit gewachsenen Konsums, der in besonderem Maße hinter dem Hauptbahnhof in Zürich zum Vorschein trat. Nach langen politischen Debatten wurde die Parkanlage entgegen den Bedenken des Zipp-Aids-Teams am 5. Februar 1992 geräumt.
Nach der Schließung sammelte sich die Szene jedoch wenig später 500 Meter flussabwärts am stillgelegten Bahnhof Letten neu, nachdem erfolglos versucht worden war, die Drogensüchtigen aus der Stadt zu vertreiben. Am Letten waren zunächst weder das Zipp noch andere Fachleute vor Ort – die Stimmung war noch aggressiver, verzweifelter, desolater als zuvor auf dem Platzspitz. Im umliegenden Quartier nahm die Kleinkriminalität zu, während Drogenhändler regelrechte Bandenkriege unter sich austrugen.
Die Untragbarkeit der Situation war ein weiterer Anstoß für ein Umdenken in der Drogenpolitik, die fortan von einem typisch schweizerischen Pragmatismus geprägt sein sollte. Von 1994 bis 1996 wurde erstmals ein Projekt durchgeführt, bei dem Betäubungsmittel, einschließlich Heroin, ärztlich kontrolliert verschrieben werden durften. Ein weiterer wichtiger Schritt, um die offene Drogenszene nachhaltig aufzulösen, war insbesondere die Einrichtung dezentraler „Kontakt- und Anlaufstellen“ in der Stadt und in der erweiterten Metropolregion. Zusammen mit den zuvor gegründeten Organisationen wie der Arud und dem Zipp-Aids-Team ermöglichten diese Maßnahmen die nachhaltige Schließung des Letten-Areals am 14. Februar 1995.
Mit dem Vier-Säulen-Modell, das die Schweizer Drogenpolitik nun bestimmte, wurden neue Maßstäbe gesetzt. Insbesondere die Einführung der legalen Abgabe von Injektionsmaterial sowie die Heroinabgabe stellten eine Pionierleistung im Umgang mit der Drogensucht dar. Die erzielten Fortschritte wurden auf die Initiativen von Ärzten und Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeitern hin hart erkämpft. Das Modell war auch in den folgenden Jahren Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Erst 2008 wurde es über eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes juristisch verankert. Die Opposition gegen eine Öffnung der Drogenpolitik entstammt auch heute noch in erster Linie dem rechten Spektrum der Parteienlandschaft, besteht aber auch aus konservativen Fachleuten.
Aktuell gibt es in Zürich, ebenso wie in anderen Schweizer Städten, keine größeren offenen Drogenszenen mehr. Die vier Stadtzürcher Kontakt- und Anlaufstellen, die als Nachfolger der ersten Abgabestelle auf dem Platzspitz bezeichnet werden können, zeugen aber vom nach wie vor in der Stadt praktizierten Heroinkonsum. Seit Mitte der 1990-er Jahren hat dieser jedoch konstant abgenommen. Gleichzeitig ist die Nachfrage für Kokain, Amphetamin und Drogen auf MDMA-Basis (Ecstasy zum Beispiel) jedoch markant gestiegen. Laut einer im März 2019 veröffentlichten Studie des Wasserforschungsinstituts Eawag und der Universität Lausanne befinden sich unter den zehn europäischen Städten mit dem höchsten Kokain-Konsum derzeit mit Basel, Genf, Sankt Gallen und Zürich gleich vier Schweizer Städte unter den Top Ten – Bern folgt auf dem elften Platz. In ganz Europa nimmt der Konsum dieser Substanzen zu, in der Schweiz lag er in den letzten Jahren allerdings auf konstant sehr hohem Niveau. So sorgte die 2017 veröffentlichte Zahl des gesamten im vorherigen Jahr in Zürich konsumierten Kokains für Schlagzeilen: Im Durchschnitt wurden in der Finanzmetropole 1,7 Kilogramm Kokain täglich konsumiert – bei einer Wohnbevölkerung von rund 430 000 Einwohnern.
Allein schon die konsumierte Menge lässt auf das schließen, was auch aus diversen Umfragen hervorgeht: Kokain hat längst den Charakter der Nobeldroge verloren und wird in allen gesellschaftlichen Kreisen und Schichten konsumiert. Im Gegensatz zu Heroin können Kokain, Amphetamine und Ecstasy leichter unbemerkt im öffentlichen Raum eingenommen werden. Die sichtbarsten Spuren finden sich beispielsweise in Form von Rückständen weißen Pulvers auf den Toiletten der unterschiedlichsten Etablissements – in Bars und Klubs sowieso, aber ebenso in Restaurants und Cafés, in Fußballstadien oder in Theatern. Während die Heroin-Junkies sich mittlerweile in einem von der öffentlichen Umwelt abgeschotteten, kontrollierten Umfeld ihren Schuss setzen können, werden Kokain und Ecstasy in der breiten Gesellschaft konsumiert. In den Institutionen der Freizeitindustrie, mitunter in direkter Nachbarschaft der Anlaufstellen für He-
roinabhängige, findet der Drogenkonsum von heute statt. Die Art der Drogeneinnahme und das Profil des durchschnittlichen Konsumenten erschweren repressive Maßnahmen in diesem Bereich. Das Risiko einer offenen Drogenszene besteht kaum, umso mehr da sich der Konsum von Kokain, Ecstasy und Amphetamine besser mit dem Arbeitsalltag in kapitalistischen Gesellschaften vereinbaren lässt.
Im Rahmen der Implementierung des Vier-Säulen-Modells wurde in der Schweiz auch die Abgabe von Kokain getestet. Der Ansatz der Drogen- beziehungsweise Substitutionsmittelabgabe in einem kontrollierten Rahmen wie den K&A scheint allerdings weniger geeignet für Kokain-Konsumenten. Der Psychiater Gianni Zarotti, der in den 1990er Jahren in der Poliklinik der Arud tätig war, erklärt im umfangreichen Zürcher Kokain-Report des Schweizer Journalisten Daniel Ryser: „Beim Heroin funktioniert das, weil man aufgrund der körperlichen Abhängigkeit den Wecker stellen kann, wann jemand seinen täglichen Schuss braucht.4“ Bei Kokainsüchtigen wird das Verlangen hingegen nicht körperlich verursacht, sondern ergibt sich psychisch bedingt aus der Situation heraus.
Ausschlaggebend für den Abbruch der Kokainabgabe war aber der politische Druck. Im Gegensatz zu den Heroinkonsumenten wurden die Kokainsüchtigen nicht als bedrohliche Gruppe wahrgenommen. Eine Maßnahme, um die Konsumenten von Kokain und Ecstasy dennoch besser zu schützen, wird seit 1993 erfolgreich betrieben: das Pillen-Testing. Konsumenten können ihre Drogen von Fachstellen auf ihre Inhaltsstoffe prüfen lassen. So wissen sie zumindest, wie hoch dosiert eine Pille ist und was für Zusatzstoffe ihrem Kokain beigemischt wurden. Zudem verpflichten sich die Konsumenten zu einem Gespräch mit einem Experten vor Ort. Damit lässt sich der Konsum zwar nur bedingt beeinflussen, aber die Praxis folgt dem Prinzip der Schadensminderung.
Inwiefern dem Drogenkonsum durch eine offenere Politik Rechnung getragen werden soll, indem die Substanzen weitestgehend legalisiert und kontrolliert zum Verkauf angeboten werden, oder ein repressives System nach wie vor aufrecht erhalten werden soll – darüber streiten sich nicht nur die politischen Lager, sondern auch die Fachleute. Der Psychiater und Experte für Pharmakopsychologie Boris Quednow äußert sich im Kokain-Report: „Es ist die Aufgabe des Staates, die Menschen auch vor sich selbst zu schützen.5“ Dennoch spricht er sich entschieden für die Entkriminalisierung des Konsums aus. Thilo Beck, Chefarzt der Arud, plädiert hingegen für eine Legalisierung. Seiner Ansicht nach wird das „Schadenspotenzial von Kokain übertrieben eingeschätzt.6“ Beck ist der Ansicht, dass bestimmte Substanzen zu verbieten und dieses Verbot mit einem repressiven System durchsetzen zu wollen, „mehr Schaden als Nutzen bringt“.
Damit spricht er die grundlegende Problematik von Suchtverhalten an. Der Psychiater Marcus Herdener ist der Meinung, dass „das Modell einer drogenfreien Gesellschaft nicht realistisch“ sei. Auch für die Westschweizer Expertinnen für Suchtfragen Anne-Catherine Menétrey-Savary und Geneviève Ziegler steht fest: „Nous vivons dans une société addictive.“ Der Rausch ist eine anthropologische Konstante, die in einer Konsumgesellschaft wenig überraschend zu einer problematischen Ausprägung, der Sucht führen kann: „la problématique des drogues est en relation avec la logique de notre société de consommation7“.
Ein gesamtgesellschaftlicher Umgang mit einer möglichst breitgefassten Definition der Sucht, die über die aus verschiedenen historischen und geopolitischen Gründen verbotenen Substanzen hinausreicht, wäre ein wichtiger Schritt, um einen ganzheitlichen Ansatz zum Umgang mit problematischem Suchtverhalten auszuarbeiten. Das Vier-Säulen-Modell stellt eine Basis für einen weiterreichenden Ansatz dar, der im Wesentlichen durch eine kohärente Politik ermöglicht werden muss. Erst wenn Drogensucht als eine Ausprägung eines weiter gefassten Phänomens verstanden wird, zu dessen Elementen auch Alkohol- und Tabakkonsum oder Kauf- und Spielsucht beispielsweise gezählt werden, hat ein ganzheitlicher Ansatz jenseits der Repressionslogik eine Chance. In der Schweiz hat der Bundesrat 2017 mit der Verabschiedung der Nationalen Strategie Sucht einen weiteren wichtigen Schritt von der Drogen- zur Suchtpolitik gemacht. Der von Fachleuten propagierte Ansatz wurde lange politisch bekämpft. Nicht zuletzt die Tabak- und Alkoholindustrie haben sich stets gegen die Ausweitung der Drogenpolitik auf legale Suchtmittel gesperrt.
Die Legalisierung einer Substanz, wie zum Beispiel Cannabisprodukten, ermöglicht zwar die Schwächung des Schwarzmarkts, einen höheren Konsumentenschutz und staatliche Einnahmen auf der Basis von Steuern. Ohne weitreichende Strategie in der Drogen- und Suchtpolitik ist die Legalisierung von Cannabis aber vor allem populistische Effekthascherei. Das gesamte System des kriminellen Drogenhandels und die Nachfrage nach weiteren illegalen Substanzen werden kaum tangiert. Durch diese inkohärente Drogenpolitik wird auch weiterhin ein internationaler Schwarzmarkt alimentiert, der Milliardengewinne generiert und für viel Leid sorgt. Eine Substanz zu legalisieren, während andere nach wie vor unter Androhung von weitreichenden Sanktionen verboten sind, kann keine kohärente, nachhaltige Wirkung auf den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit den Phänomenen Rausch und Sucht haben.