66,2 Prozent der Schweizer StimmbürgerInnen haben am Sonntag vergangener Woche die „Selbstbestimmungsinitiative“ der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) abgelehnt. Aufgrund der vor der Abstimmung ermittelten Umfrageergebnisse, die in der Schweiz in der Regel zuverlässig auf einen gewissen Trend schließen lassen, kam es nicht überraschend, dass die Vorlage verworfen wurde. Eine derart deutliche Niederlage der SVP hatte aber kaum jemand erwartet. Sie ist ein starkes Signal gegen die radikale Politik der wählerstärksten eidgenössischen Partei.
Die SVP wollte mit der „Selbstbestimmungsinitiative“ Schweizer Recht über internationales Recht stellen. Ausgenommen sein sollte nur das zwingende Völkerrecht. Wäre die Initiative angenommen worden, würden internationale Verträge, die im Widerspruch zu helvetischem Recht stehen, künftig „nötigenfalls“1 gekündigt. Der vollständige Name der abgelehnten Gesetzesvorlage lautete bezeichnenderweise: „Volksinitiative ,Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)’“. Im Abstimmungstext verwiesen die Initiatoren mit dem Begriff der Selbstbestimmung explizit auf das direktdemokratische politische System der Schweiz. Mit der Initiative sollte „die Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger als wichtiger Pfeiler des Erfolgsmodells Schweiz auch in Zukunft“2 gesichert werden.
Weniger offensichtlich ist, wer mit „fremden Richtern“ gemeint war. Denn einerseits wurden „internationale Gremien und Behörden“ genannt, die den „Geltungsbereich der internatio-
nalen Verträge“, an die die Schweiz gebunden ist, laufend ausweiten3. Andererseits erklärten die Initiatoren, dass „Politiker und Gerichte in letzter Zeit mit Verweis auf internationale Verträge Schweizer Volksentscheide nicht mehr oder nur teilweise“ umsetzen würden4. Damit richtete sich die Initiative nicht nur, wie der Name suggerierte, gegen „fremde Richter“, sondern auch gegen die politischen Widersacher der SVP und gegen das Schweizer Bundesgericht.
Im Wesentlichen hatte die Initiative zum Ziel, das Primat der Schweizer Rechtsprechung gegenüber der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durchzusetzen. Nachdem die Schweiz 1974 die EMRK ratifiziert hatte, wurde „der Gerichtshof in Straßburg zu einer Art inoffiziellem Verfassungsgericht der Eidgenossenschaft, die diese wichtige Institution nicht kennt“, wie der Schweizer Journalist Kaspar Surber treffenderweise in einem Beitrag für die deutsche Ausgabe von Le Monde Diplomatique festhält5.
Gemäß dem Schweizer Historiker Jakob Tanner opponierte die SVP schon damals gegen den Beitritt zur EMRK, indem sie vor einem „Souveränitätsverlust der Schweiz angesichts der ‚fremden Richter‘ in Straßburg“6 warnte. Dabei ging es auch um das Frauenstimmrecht, dessen Einführung in wechselseitiger Beziehung mit dem Beitritt stand. Die Konvention steht somit viel stärker symbolisch für das demokratische System, wie es die Schweiz heute kennt, als dass es eine Bedrohung für die Demokratie wäre. Ebenso irreführend, um nicht zu sagen schlichtweg falsch, ist heutzutage die Bezeichnung des EGMR als „fremde Richter“. Die Schweiz stellt als einziges Land sogar zwei Richter in Straßburg, da Liechtenstein ebenfalls von einem helvetischen Richter repräsentiert wird.
Wegen der Anerkennung internationalen Rechts, allen voran der EMRK, durch das Schweizer Bundesgericht inszeniert die SVP hingegen einen Souveränitätsverlust der Schweizer Stimmbürgerschaft. So beanstandet die Partei die nach ihrer Ansicht nicht gemäß dem „Volkswillen“ erfolgte Umsetzung der Initiative „für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ und der Ini-
tiative „Gegen Masseneinwanderung“. Diese beiden Initiativen wurden ebenso wie die am vergangenen Sonntag zur Abstimmung unterbreitete „Selbstbestimmungsinitiative“ von der SVP eingereicht und von allen anderen Parteien sowie fast allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verbänden bekämpft.
Nach der Annahme der Vorlagen oblag die Umsetzung allerdings dem Parlament und den Gerichten. So hatte das Bundesgericht 2012 gegen die Abschiebung eines straffällig gewordenen Einwanderers der zweiten Generation entschieden, da die Maßnahme angesichts des Delikts unverhältnismäßig sei. Für die SVP stellte dieses Urteil einen Affront gegenüber dem Willen der StimmbürgerInnen dar. Dabei war bereits beim Einreichen der besagten Initiative klar, dass es im Fall ihrer Annahme zu Widersprüchen mit den Menschenrechten, wie sie von der EMRK geschützt werden, kommen würde.
Bei der „Masseneinwanderungsinitiative“ wiesen die Gegner wiederum darauf hin, dass bei einer wortgetreuen Umsetzung dieser Gesetzesvorlage die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU gekündigt werden müssten – was die SVP stets verneinte. Im Parlament wurde schließlich ein pragmatischer Kompromiss ausgehandelt, der sowohl dem Initiativtext als auch den bilateralen Verträgen mit der EU Rechnung tragen sollte – eine bis dato übliche Praxis im Schweizer Parlamentarismus. Mit der „Selbstbestimmungsinitiative“, die am Sonntag scheiterte, wollte die SVP sowohl das Bundesgericht als auch die politische Konkurrenz zwingen, Gesetzesvorlagen möglichst strikt nach dem Wortlaut der Initiativtexte umzusetzen. Auch auf Kosten internatio-
naler Verbindlichkeiten. Es handelte sich um einen Angriff der SVP auf die staatliche Gewaltenteilung, getarnt unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung der Wahlbürgerschaft.
Angesichts der Radikalität der Vorlage konstatierten viele Schweizer Kommentatoren überrascht, dass die Abstimmungskampagne der SVP erstaunlich sachlich geführt wurde. Tatsächlich propagierten die meisten Abstimmungsplakate und Flyer nüchtern die Kernbotschaft der Abstimmung: „Ja, für die direkte Demokratie. Ja, für die Selbstbestimmung“. Provokative Botschaften wie auf einem Plakat mit einem Jean-Claude-Juncker-Sujet (siehe Foto) hatten Seltenheitswert. Ein Verweis auf die SVP fehlte auf allen Plakaten und Flyern, obwohl sie die Initiative eingereicht hatte. Inhaltlich verzichtete die SVP-Führung in der intensivsten Phase des Abstimmungskampfes mitunter auf früher getätigte Aussagen, die einen Bezug zur EMRK herstellten. Es war keine Rede mehr von einer Inkaufnahme der Kündigung der Menschenrechtskonvention, obwohl das in den ursprünglichen Argumenten explizit erwähnt wurde.
Allerdings setzte die SVP in der Debatte zur Abstimmung nur bedingt auf ein gemäßigtes Auftreten, vielmehr war die Kampagne auf verschiedenen Ebenen differenziert. Plakate wie das mit dem Juncker-Sujet entsprachen dem Stil, den die SVP seit den 1990-er Jahren pflegt und der rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in Europa als Inspiration dient. Auch in den sozialen Medien kursierten Videos, deren Botschaften alles andere als sachlich waren. Aber vor allem mit zahlreichen Podiumsdiskussionen mobilisierte die SVP ihre Basis und schürte gleichzeitig eine aggressive Haltung gegenüber ihren politischen Opponenten. Sowohl die Aargauer Zeitung als auch der Zürcher Tages-Anzeiger berichtete von Veranstaltungen, auf denen Gegner der Initia-
tive von Personen aus dem Publikum ausgebuht und beschimpft wurden. Dieser zur Schau gestellte Mangel an Respekt, der bisweilen in offenen Hass umschlug und bei solchen Veranstaltungen insbesondere der sozialdemokratischen Justizministerin Simonetta Sommaruga entgegengebracht wurde, ist das Resultat einer vergifteten politischen Debatte, die über Jahre hinweg von der SVP zugespitzt wurde.
Die „Selbstbestimmungsinitiative“ steht in der Kontinuität dieser radikalen politischen Linie der Partei. Die deutliche Ablehnung der Vorlage wird die SVP nicht von dieser Linie abbringen. Konnten die Initiatoren kaum WählerInnen über ihre Basis hinaus gewinnen, so haben sie Letztere mit der Abstimmung weiter auf die Parteilinie eingeschworen. Angesichts der 2019 anstehenden Parlamentswahlen ist das nicht zu unterschätzen. Wenngleich die SVP dann Stimmen von WechselwählerInnen einbüßen könnte, ist nicht zu erwarten, dass sie ihre StammwählerInnen verlieren wird – was gleichbedeutend mit dem Erhalt ihrer Position als wählerstärkste Schweizer Partei ist.
Das wiederum ist ihrer Selbstdarstellung als Volkspartei zuträglich, die sich gegen das politische Establishment, die Eliten und vor allem gegen Europa zur Wehr setzt. Die teils breite Ablehnung der letzten großen SVP-Initiativen, die sich allesamt um ihre politischen Stammthemen Migrations- und Europapolitik drehten, deutet jedoch darauf hin, dass die Partei im Begriff ist, die Deutungshoheit in diesen Bereichen zu verlieren.
Die SVP wird auch weiterhin versuchen, mit radikalen Initiativen und aggressiver Rhetorik den Ton in der Schweizer Politik anzugeben. Spätestens seit der Jahrtausendwende haben die Rechtspopulisten die anderen Parteien, allen voran die Christdemokraten und die Liberalen, aber auch die Sozialdemokraten, mit den Debatten um das Verhältnis zur EU und die Migration vor sich hergetrieben. Doch für die konkurrierenden politischen Parteien ist der Moment günstig, ihre jeweilige politische Linie eigenständig zu artikulieren, indem sie wieder eigene Themen in den Vordergrund der öffentlichen Debatte stellen.