L'exposition scintillante heißt die Installation, die der französische Künstler Pierre Huyghe derzeit bei der zeitgenössischen Kunstbiennale in Lyon zeigt: Eisschollen aus Styropor füllen einen riesigen Ausstellungsraum des Musée d'art contemporain, ganz hinten eine Leuchtbox, aus der die Sterne im Nebel funkeln. Ein Werk, so ultraromantisch, dass man nicht umhin kommt, an Caspar David Friedrichs Eismeer von 1823 zu denken, ein fast schon apokalyptisches Bild einer vereisten Welt. Dagmar Weitzes Bühne für Norway.Today im Kapuzinertheater weckt Reminiszenzen an beide Werke: sie hat eine Eislandschaft gebaut, so weiß und so kantig, vor einem perfekt blauen Himmel, dass einem fast schon beim Anblick kalt wird. In dieser Landschaft im Eis verbringen Julie und August eine Nacht im Zelt, mit dem festen Vorsatz, sich Tags darauf vom Felsen in den Tod zu werfen.
Kennen gelernt haben sich die beiden beim chatten im Internet, natürlich. Igor Bauersima, 1964 in Prag geboren, aufgewachsen in der Schweiz, wo er noch immer lebt und arbeitet, hat sich für sein Stück, das er 2000 im Auftrag des Düsseldorfer Schauspielhauses schrieb, an einer wahren Geschichte inspiriert. Einer jener tragischen Geschichten über die arme reiche Jugend von heute, mit denen der Spiegel Hochglanzpapier verkauft: eine 17-jährige Österreicherin und ein 25-jähriger Norweger hatten sich im Januar 2000 vom Prekestolen in Norwegen 600 Meter tief in den Tod gestürzt.
Schwieriges Thema, am Rande des Kitsches, über die ach so entmenschlichte Internetgesellschaft mit moralisierender Gutmenschensoße. Doch die gute Nachricht ist: Igor Bauersima löst es mit Brio. Regisseur Charles Muller hat das Stück zur Eröffnung der Saison des Kapuzinertheaters herausgesucht und mit zwei jungen, brillanten deutschen Schauspielern - Anne Diemer und Johannes Schön - besetzt. Spätestens beim tosenden Applaus am Ende, vor allem von einem jugendlichen Publikum nach der Premiere am Samstag war klar: die Wanderung auf Messers Schneide war gelungen. Denn wie auf den Klippen um das norwegische Fjord besteht auch bei Bauersimas Stück ständig die Gefahr, in die Vereinfachung, mehr noch, eine Verflachung oder eine überkandidelte, romantische Dramatik - These: Die Liebe ist stärker als der Tod - zu fallen.
Schon alleine durch die Sprache: Igor Bauersima will in seinen Stücken eine möglichst einfache Sprache benutzen. So legt er den beiden Helden von Norway.Today Dialoge in den Mund, die möglichst nahe an der Alltagssprache Jugendlicher ist, und doch prickelt aus jeder Zeile ein intelligenter, stets etwas ironischer Wortwitz. "Etwas kalt bist du für Juli(e)" findet August als er die Frau aus dem Internet trifft. Sie: "ich will ewig schweigen", er: "Jetzt schon?"
August ist ein Loser, von sich selbst überzeugt, er sei ein Feigling, dem Leben nicht gewachsen. "Das Leben ist für mich ein Problem, das ich jeden Tag aufs Neue lösen muss." Er will flüchten aus einer Welt, in der ihm alles "fake", alles "schräg", falsch, gekünstelt erscheint: "Das echteste Gefühl, das ich haben kann, ist, dass nichts ist." Er fühlt sich nicht wirklich "im Leben", sondern "am Leben", eben nahe dran. Und trotzdem ist er bis zum Schluss nicht ganz sicher, ob er denn nun wirklich sterben will.
Julie hingegen ist eine Powerfrau, seit jeher umsorgt und geliebt von ihrer Familie, hatte alles, kannte alles, bereiste die Welt, und doch scheint ihr das Leben sinnlos, ist sie von Todessehnsucht getrieben. Wer im Internet nach der URL www.suizid.com sucht, die vor Beginn des Stücks auf den Vorhang projiziert wird, erhält eine Fehlermeldung von seinem Browser. Mit den Endungen .ch oder .at allerdings wird man zu Webseiten über Depressionen weitergeleitet. Doch Julie weiß eines mit Sicherheit - ihr Selbstmord soll keine Flucht sein, sie ist nicht depressiv: "Depressiv sein, lohnt sich nicht. Depressive Selbstmörder sind Waschlappen." Ihr Sprung in den Tod soll eine ganz bewusste Handlung sein, der Höhepunkt ihres Lebens. Darum hat sie alles bis ins letzte Detail geplant, Kleidung, Begleitung, Reise, Inszenierung. Und eine Videokamera, um letzte Grüße an die Familie zu hinterlassen.
Vielleicht ist eben diese Videokamera ihre Rettung. Denn als beide am Abend von einem Nordlicht überrascht werden, haben sie das Bedürfnis, es auf Video aufzuzeichnen, und werden sich beim Abspielen der Bilder bewusst, dass die Größe des Naturschauspiels nicht einzufangen ist. Womit bewiesen wäre, dass das richtige Leben größer als das "gefakte", das virtuelle Leben ist. Ihr Wille, den Moment einzufangen und zu dokumentieren, ist ein Indiz ihrer neu gewonnenen Lebenslust. Etwas früher schon im Stück konnte man zur Überzeugung kommen, dass Julie und August nicht springen würden, als sie, nach einem Streit mit August, an einer Felsklippe baumelnd um Hilfe fleht: hängt eine Selbstmörderin so am Leben? Genau in diesem Moment fangen beide an, Vertrauen aufzubauen.
Der große Erfolg der Kapuzinerproduktion von Norway.Today ist die Präzision von Charles Mullers Inszenierung und Schauspielführung. Anne Diemer und Johannes Schön überspielen nie, sie hat die fragile Power einer frühreifen, selbstbewussten jungen Frau, er die Schlaksigkeit, das Unwohlsein eines späten Jugendlichen, der nie so richtig weiß, wohin mit seinem Körper. Wenn August befürchtet, von einem emotionalen Schock bekomme er bestimmt Pickel, dann löst das auch deshalb allgemeines Gelächter im Publikum aus, weil man ihm glaubt und weiß, dass Pickel eine der größten Katastrophen im Leben eines 20-jährigen darstellen können. Auch wenn Hautprobleme einem Selbstmörder eigentlich egal sein könnten.
Einige Szenen in Norway.Today sind wahre Perlen, zum Beispiel die verbale Erotik mit der sich beide ihre erste und letzte Liebesnacht ausmalen. Und auch da bleibt der Humor als Waffe gegen den Kitsch. Sie: "Wir würden uns das Hirn rausficken"; er: "Nein, ich würde dich lieben", sie: "Du meinst: langweilig ficken?". Glücklicherweise will Charles Muller nichts beweisen, er will eine Geschichte erzählen, und verdichtet sie durch Querverweise, wie zum Beispiel den Einsatz der wunderbaren Musik der leider aufgelösten Dead can dance, lässt Brendan Perry mit glasklarer Stimme I am stretched on your grave beim Szenenumbau singen. Und wie Igor Bauersima und Caspar David Friedrich scheint Charles Muller ein großer Romantiker zu sein, überzeugt wie sie, dass in einer eisigen, kaputten Welt, die Liebe möglich, ja sogar die Rettung sein kann.
Norway.Today von Igor Bauersima, Inszenierung: Charles Muller, Dramaturgie: Marc Linster, Bühnenbild und Kostüme: Dagmar Weitze, Regie-Assistenz: Renée Maerz; mit: Anne Diemer und Johannes Schön; eine Produktion der Stadttheater Luxemburg; weitere Vorführungen heute Freitag, 10., morgen, Samstag, 11. sowie am 16. und 17. Oktober jeweils um 20 Uhr im Kapuzinertheater; Karten können unter Telefon 470895-1 oder im Internet www.luxembourgticket.lu bestellt werden.